Alexander Solschenizyn - Ein Tag des Iwan Denissowitsch

 

"Die Phantasie der Schriftsteller versagt aufs jämmerlichste vor dem Alltag der Einwohner des Archipels".

Solschenizyn brauchte keine Phantasie, um sich den Alltag in den Lagern Stalins auszumalen, er hatte ihn am eigenen Leibe erfahren. Das Leben konnte er nur bewältigen, indem er Schriftsteller wurde und immer wieder den "Versuch einer künstlerischen Bewältigung" unternahm.

Anders als im "Archipel Gulag" kommt diese Erzählung ohne Appelle an den Leser aus. Die künstlerische Entscheidung, auf der das Besondere dieser Erzählung beruht, ist der konsequente Verzicht auf das Herausragend-Einmalige, auf alles Spektakuläre in Ausdrucksmitteln und Inhalten. So werden Folter, Liquidierung nicht erwähnt, erschwerte Haftbedingungen tauchen nur insofern auf, als sie als drohende Möglichkeit immer zum Lageralltag gehören. Die strikte Beschränkung auf "Alltäglichkeit" hat allerdings keine beschwichtigende Wirkung: Sie läßt darüber erschrecken, dass solche Lebensbedingungen alltäglich werden können.

An der Frage nach der "Menschlichkeit" in diesem System scheint die Erzählung zunächst gar nicht interessiert zu sein, sondern an der Fähigkeit zu überleben. Die Häftlinge werden aus der Perspektive von Lagerinsassen gemustert nach ihrer größeren oder geringeren Aussicht, sich auf die Lebensbedingungen "drinnen" einzustellen. So wissen die Alteingesessenen an nur ihnen auffallenden Verhaltensweisen abzulesen: "Er wird das Ende der Haftzeit nicht erleben" oder "Er wird einmal ein richtiger Lagerhase werden".

Von menschenfreundlichem Handeln unter Lagerbedingungen erzählt der Bericht über die letzten Stunden von Iwans Tag, wenn es darin auf den ersten Blick auch nur um das Bemühen um eine Aufbesserung der eigenen Ration zu gehen scheint. Dabei darf man keine Liebestaten erwarten, denn ein Häftling hat weder Raum noch Lebenszeit zu verschenken. Entscheidender aber ist, dass in seiner Situation die einfachsten Gesten der Freundlichkeit ihre Spontaneität verloren haben, eingebaut sind in das System des Überlebenskampfes. Wer einem anderen auch nur einen geringfügigen Dienst leistet, tut das im Rahmen eines Plans zu Verbesserung seiner Lebensumstände, und wer den Dienst annimmt, weiss, dass er eine Gegenleistung schuldet.

Trotz allem erscheint Iwan der Tag als "nahezu glücklich". Dass aber ein solcher Tag überhaupt so empfunden werden kann, bleibt herzzerreißend.

 

Meine Gedanken

 

Noch nie zuvor habe ich ein Buch über einen einzigen Tag gelesen, das so überaus spannend und interessant war. Vom Aufwachen und Wecken am Morgen bis zum Abendappell und Schlafengehen ist dieses Buch fesselnd. Man lebt mit dem Insassen mit, versucht, sich in ihn hinein zu versetzen. Doch ich muss gestehen und bin eigentlich auch froh darüber, dass ich mich nicht wirklich mit Iwan Denissowitsch identifizieren konnte - denn so blieben mir einige Tränen und schlaflose Nächte erspart.

Zusammengefasst: Mehr als Lesenswert!

 

Der Autor

 

Alexander Solschenizyn wird 1918 in Kislowodosk geboren. Er wächst in einer Familie des Bürgertums auf und träumt davon, einmal so zu schreiben wie Tolstoi in "Krieg und Frieden". Er studiert Mathematik und Physik, gleichzeitig macht er ein Ferstudium in Geschichte, Literatur und Philosophie. 1941 geht Solschenizyn mit 23 Jahren an die Front. Nach dem Krieg wird er wegen kritischen Äußerungen über Stalin zu acht Jahren Straflager verurteilt. Während dieser Zeit wird seine Ehe geschieden. 1953 wird er abermals verurteilt - zu ewiger Verbannung in Mittelasien. Drt erkrankt er an Krebs. 1957 wird Solschenizyn rehabilitiert und kann seine Werke veröffentlichen. Nach der Absetzung Chruschtschows werden seine Bücher wieder verboten, 1969 wird er aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1970 wird ihm der Nobelpreis verliehen, er kann ihn aber nicht persönlich in Empfang nehmen, da er keine Reiseerlaubnis erhält. 1974 wird Solschenizyn erneut verhaftet nachdem die Geheimpolizei das Manuskript "Archipel Gulag" entdeckt hatte. Er wird ausgewiesen und geht in die Schweiz.

 


   

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