Weihnachten verdauen oder der Unterschied zwischen einer Playstation 2 und der Krippe!

(von Werner Schneebeli Dezember 2001) 

Draussen blähst ein bissig kalter Wind und wirbelt den frischen Neuschnee wild über die Hochebene. Von der kleinen eingeschneiten Alphütte ist nur noch ein kleiner Giebel sichtbar. Zu dieser Jahreszeit steht sie gewöhnlich allein und verlassen da, eingehüllt in einen dicken Mantel von Schnee. Heute aber steigt Rauch auf, aus dem freigeschaufelten Kamin. Guschti Suter, ein Knecht aus dem ersten Bergdorf unten im Tal, hat Schutz vor dem Schneesturm gesucht. Zwei Schafe und ein Rind wurden nach dem Verlassen der Alp im Herbst vermisst und bis heute noch nicht gefunden. Guschti hat ein Herz für Tiere. Er will nicht, dass die Schafe und das Rind über die Weihnachtszeit hier oben in den Bergen erfrieren. Zudem liebt er von Zeit zu Zeit die Einsamkeit. Er ist froh, wenn er einen Grund findet, um dem Gerangel und Gerummel um die Weihnachtstage aus dem Weg zu gehen. Nicht dass ihm die Weihnachtsgeschichte nichts sagen würde. Immer wieder stellt er sich vor, wie die Hirten damals Augen machten, als ihnen der Engel verkündete: ‚Fürchtet euch nicht, ich bringe euch eine gute Nachricht.' "Was könnte ein Engel den anderes bringen, als eine frohe Botschaft", fragt sich Guschti. Er kann sich keinen Engel vorstellen, der keine gute Botschaft bringt. Engel sind doch Boten Gottes und Gott ist gut. Davon ist Guschti felsenfest überzeugt. "Die Knechte und Hirten waren die Ersten, denen Gott mitteilen liess, dass der Heiland in Bethlehem in einem Stall geboren wurde", denkt sich Guschti. "Und der kleine Jesus teilte sich den Schlafplatz mit Schafen, Esel und Ochs. Wie ich heute am Weihnachtsabend. Hier in der Hütte, allein mit meiner Flo und mit Kati." Flo, eigentlich Flora, ist seine treue Hündin, die ihn mit ihrem Scharfsinn auf allen Wegen begleitet. Sie liegt nahe am Feuer eingerollt, müde vom langen Tag. Kati ist das Leitschaf seiner Herde. Ihre unbändige Kraft und ihr feiner Spürsinn für alle möglichen Gefahren in den Bergen sind für Guschti von grossem Nutzen. Sie liegt im vorderen Raum der Hütte, im eigentlichen Stall, im Stroh und Kaut genüsslich das bereitgelegte Heu.
Guschti selbst schneidet sich ein wenig vom letzten Stück Käse ab. Sein Proviant geht bald zuneige. Morgen wird er die weitere Suche abbrechen und ins Tal zurückkehren müssen. "Unten werden sie jetzt Gottesdienst feiern. Den Christbaum in der Kirche bewundern und dem Pfarrer zuhören, der wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte vorliest. Und dann zuhause mit der Familie zusammensitzen und ein Festessen geniessen, Weihnachtslieder singen und Geschenke auspacken, ‚Danke' sagen und ‚Bitte gern geschehen' antworten." Ihm ist aber hier in der Hütte wohl. "Weihnachten, wie damals. Ob auch dieser Stall etwas von Weihnachten weiss?" fragt sich Guschti, beisst sich ein Stück hartes Brot ab und geniesst den Käse. Dazu hat er sich einen heissen Tee gebraut. Er ist zufrieden mit sich und der Welt. Er hat alles, was er für den Augenblick zum Leben und zum Glück braucht. 
Flo immer noch eingerollt, hebt den Kopf und spitzt die Ohren. Sie kann wohl unterscheiden, welche Geräusche von Wind und Schnee verursacht werden und welche nicht. Bevor Guschti etwas merkt rennt sie bellend und knurrend zur Tür. "Still Flo," ruft Guschti, "es ist ja schon fast Dunkel, um diese Zeit wird niemand mehr diese verlassene Hütte aufsuchen." Flo aber bleibt bei ihrer Meinung und jetzt hört es auch Guschti. Jemand klopft an die Tür. Nun geht auch Guschti zur Tür, schiebt den grossen eisernen Riegel auf, hält seine wild bellende Hündin um den Hals fest und öffnet die Tür. Eine weisse Gestalt mit Schneeschuhen und einem Brett in der Hand tritt ein und schüttelt sich den Schnee aus Kappe, Jacke und Hosen. Mit ihm kommt auch ein Schwall eisige Kälte in die Hütte. "Beisst er?" fragt der Schneejunge vorsichtig. "Wenn du böses im Sinn hast schon," gibt Guschti, immer noch Flo haltend, zurück. "Ich hab mich verirrt in diesem Schneegestöber. Wollte ein wenig Tiefschneefahren und plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich bin. Zum Glück habe ich diese Hütte gefunden, da draussen hätte ich die Nacht nicht überlebt." Guschti ist sich nicht sicher, ob das für ihn auch Glück ist. Suchte er doch die Einsamkeit. Flo hat den Fremdling nun ausgiebig beschnuppert und nicht als Gefahr eingestuft. "Zieh deine Nassen Sachen aus, dort über dem Ofen kannst du sie aufhängen. Tee, Brot und etwas Käse hab ich auch noch." Kaum gesagt, fragt sich Guschti, wieso er so freigiebig mit dem Wenigen umgeht, das er hat. Aber das ist halt seine Art. Er ist sich gewohnt zu teilen.
10 Minuten später sitzen beide am kleinen Holztisch, vor sich den Resten vom Brot und Käse, zwei Farmerstengel und ein Mars, konnte der junge Mann noch beisteuern. "Leichtsinnig, bei diesen Wetterbedingungen allein in die Berge zu wandern. Ich heisse übrigens Guschti und das ist Flo, meine treuste Begleiterin." "Peter, danke. Du hast recht. Es ist wohl der Leichtsinn der Jugend. Wird mir eine Lehre sein. Du bist aber auch allein in den Bergen." "Nicht allein, ich habe Flo, die Spürnase und Kati, das Leitschaf. Sie warnt mich vor Gefahren. Zudem kenn ich mich in den Bergen aus und hab schon so manche Erfahrung gemacht. Du kannst deinem Schutzengel danke sagen, das du noch lebst." "Schutzengel," Peter lächelt, "du glaubst doch nicht etwa noch an Engel. Ich hab einfach Glück gehabt." "Dann ist dieses Glück dein Engel," gibt Guschti unbeirrt zur Antwort. Guschti, der keine Lust auf dummes Geschwätz hat, nimmt eine angefangene Schnitzerei zur Hand und setzt seine Geduldsarbeit fort, es soll ein Engel werden. Nicht irgendein Engel, vielmehr der Engel, der damals den Hirten verkündete: ‚Euch ist heute der Heiland geboren.' Peter kaut am harten Brot und dem rindenharten Bergkäse. Langsam nimmt er den Geruch von Stall wahr und alles kommt ihm reichlich fremd vor. 
Noch nach Jahren wird sich Peter fragen, ob er die folgenden Ereignisse geträumt oder ob es sich tatsächlich so ereignet hat. 
Ein Licht bricht durch die schwach erleuchtete Hütte und setzt alles in ein gleissendes Licht. Dennoch können die zwei überraschten Männer in die Quelle des Lichts blicken, ohne geblendet zu werden. "Fürchtet euch nicht," hört Peter eine Stimme, ohne zu wissen, ob die Quelle des Schalls ausserhalb von ihm oder in ihm drin zu lokalisieren ist. Er blickt zu Guschti, dem Knecht, dieser scheint alles auch wahrzunehmen. Mit offenem Mund starrt auch er dem Licht entgegen. "Heute, ist euch Heil wiederfahren. Am Geburtstag des Heilands wird dieses Heil an allen Orten verkündet, die mit dem Stall in Bethlehem verbunden sind. Ihr habt einen Wunsch frei." "Playstation 2", schiesst es Peter durch den Kopf und schon liegt eine neue Playstation vor ihm auf dem kleinen Holztisch. "Spinn ich?" fragt sich Peter, "was soll ich hier mit einer Spielkonsole ohne TV und ohne elektrischem Strom?" Auch Guschti schaut entgeistert auf das kuriose Gerät vor sich. "Was ist das?" fragt er ungläubig indem er Peter mit grossen Augen anschaut. "Sorry," sagt Peter, "das ist ein Gerät zum Spielen. Scheint die Erfüllung meines Wunsches zu sein." "Und was fangen wir damit an?" fragt Guschti. "Das ist ja das Problem. Hier oben hätten wir ganz andere Dinge nötig. Ich hätte mich vor dem Wünschen fragen sollen, was ich wirklich nötig habe." "Was wir nötig haben", präzisiert ihn Guschti. "Engel! Kannst du dieses Geschenk zurücknehmen? Wir können hier mit diesem Gerät nichts anfangen." "Einverstanden, ich nehme das Geschenk zurück", hört Peter die Stimme wieder, "und nun zum zweiten Mal: Ihr habt einen Wunsch frei." Peter versucht sich zu fragen, was er sich hier wünschen könnte und bevor er richtig Denken kann saust ihm ein MP3-Player durch den Kopf und landet behutsam auf dem Tisch. "Darf ich vielleicht auch einmal mitwünschen? Oder glaubst du, dass du dieses Gerät nötig hast, um glücklich zu werden?" "Sorry, ich bin wohl ein bisschen wohlstandskrank. Ich schenk ihn dir," antwortet Peter, der sich allmählich einwenig dumm vorkommt, "oder vielleicht gibt uns der Engel eine dritte Chance?" "Ich frag ihn," sagt Guschti, "und du versuchst an etwas zu denken, das dein Herz wirklich mit Glück füllen kann. "Lieber Engel," beginnt Guschti, "du bist wirklich gütig, aber leider ist auch der zweite Wunsch am wirklichen Leben vorbei gegangen. Gib uns bitte noch eine dritte Chance." "Ich gebe sie euch," ertönt wieder die Stimme, "ihr habt einen Wunsch frei." Peter sucht in seinem Innern nach dem Glück. Seine Erinnerung führt ihn in die Kindheit und an ein Weihnachtsfest. Er sieht sich vor der Krippe stehen, die er mit der Mutter aufgestellt hat. Er betrachtet die Esel, Schafe, Ochsen und bestaunt die Könige mit ihren Pferden und Kamelen. Er freut sich an den verstrubbelten Hirten und sein Blick wandert zu Maria und Josef und zur Krippe, in dem das Jesuskind liegt. Wärme durchströmt sein Inneres. "Dies ist der Heiland. Der Erlöser und Retter der Welt. Er wird mich und allen andern Menschen den Frieden lehren." 
Während dieser Gedankenreise muss er eingeschlafen sein, denn am Morgen, weckt ihn das Geräusch von knisterndem Holz, das frisch in den Ofen geschoben worden ist. Guschti hat das Feuer entfacht und braut bereits heisses Wasser für einen weckenden Kaffee. "Wo ist der Wunsch?" fragt sich Peter, er wagt es noch nicht, sich aus der warmen Wolldecke zu rollen, denn im Stall ist es noch bissig kalt. Da sieht er auf dem Küchenkasten eine Krippe stehen. Wärme durchströmt sein Inneres, er steht auf geht zur Krippe hin und betrachtet die vielen Figuren, Esel, Schafe, Ochsen, Hirten und Könige und in der Mitte Maria, Josef und das Kind. Alle Figuren und selbst der Stall sind aus Brot und Käse gemacht. "Frohe Weihnachten", wünscht Guschti dem staunenden Peter. Diesem hat es die Sprache verschlagen. Mit dem Finger zeigt er auf die Krippenlandschaft und schaut Guschti fragend an. "Unser Weihnachtswunsch, schön nicht?" "Und der Engel?" fragt Peter? "Engel? Hast du nicht gesagt, du glaubst nicht an Engel? Komm, der Kaffee ist bereit und nimm einwenig Stall und einige Figuren mit." "Du willst diesen Weihnachtsstall doch nicht etwa essen!" empört sich Peter. "Was den sonst. Das wirkliche Glück lässt sich nie aufbewahren. Geniess es, wenn es da ist. Das ist wie mit den Engeln. Nur so wird es in deiner Erinnerung zu einem unvergesslichen Schatz." "Und das Jesuskind?" fragt Peter ungläubig weiter, "willst du das etwa auch essen?" "Nein, das ist für dich. Nimm ihn in dich auf und verdau diese Botschaft des Himmels, ich habe schon oft das Abendmahl genossen in der Kirche."
Draussen tobt immer noch ein Schneegestöber. Guschti und Peter verbringen zwei Tage zusammen in diesem Stall. Sie reden nicht viel. Beide nutzen die geschenkte Zeit, um über das Leben nachzusinnen. Wie noch nie an Weihnachten gelingt es ihnen, die Botschaft der Weihnachtsgeschichte mit dem Leben zu verweben. Am dritten Tag geht die Sonne über dieser tief verschneiten Landschaft auf. Guschti begleitet Peter bis zum zwar verschneiten aber durch die Markierungspfosten doch noch sichtbaren Weg ins Tal. Er selbst bleibt in den Bergen und geht auf die Suche nach den vermissten Tieren. Der Stall und die Figuren aus Brot und Käse geben ihm noch für einige Tage Nahrung und Kraft, die Begegnung mit dem Engel aber stärken seine Lebenskräfte für das ganze neue Jahr, ja noch weit darüber hinaus.

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