Denk mal nach über Schule

Die Lehrerrolle auf den Kopf stellen

Schon der Begriff Lehrerrolle sagt einiges über das Selbstverständnis des Lehrers aus: Er spielt eine Rolle, d.h. er ist nicht er selbst, sondern stellt jemand anderen dar. Unterricht wird zur Inszenierung der eigenen pädagogischen Fähigkeiten und Tricks, man ist auf einer Bühne, die Schüler sind das mehr oder weniger dankbare Publikum. Dann ist es natürlich besonders frustrierend, wenn die Darstellung, die Lehr-Show nicht den Anklang findet, den man bei der Mühe an Vorbereitung eigentlich verdient hätte. Jemand beklagte sich, dass die Schüler umso weniger täten, je mehr man selber an Arbeit in die Planung und Vorbereitung einer Unterrichtsstunde gesteckt hätte.


Was läuft schief?

Ein Lehrer versteht sich wohl oft immer noch als der Haupt-Wissensvermittler. Er möchte, selbstverständlich mit den besten Absichten, Kinder und Jugendliche am Wissen und Können der Erwachsenengeneration, der Gesellschaft teilhaben lassen. Nur heute funktioniert die Weitergabe von Wissen, auch die Erziehung nicht mehr so wie vor 100, ja sogar nur vor 50 oder 25 Jahren. Die Umwelt und die Möglichkeiten der jungen Generation haben sich grundlegend verändert. Erwachsenen können nicht mehr von ihrer eigenen Kindheit auf die heutige schließen. Das Wissen selber vermehrt sich exponentiell, dagegen wird die Allgemeinbildung immer magerer. Gehirnforschung, Neurophysiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie entdecken immer mehr die Zusammenhänge, Bedingungen und Probleme, die für das Lernen, ja für die gesamte Entwicklung eines Menschen prägend und entscheidend sind.  Bezeichnenderweise werden durch die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse gerade die Reformpädagogischen Bewegungen vor fast 100 Jahren bestätigt, und man fragt sich, warum sie so lange Zeit beinahe in Vergessenheit geraten sind.
Selbst die in Deutschland übliche Schulpflicht (andere Länder haben "nur" Unterrichtspflicht) trägt dazu bei, dass Schule und damit die Lehrer als ihre Repräsentanten einen schlechten Ruf haben, schließlich wird man als Kind und Jugendlicher dazu gezwungen, in die Schule zu gehen und mit den zugeteilten Lehrern irgendwie auszukommen. "Lehrer" ist ein Schimpfwort, sagte neulich ein Schüler. Das tut weh.
Natürlich sind längst nicht alle Lehrer von der üblen Sorte, autoritär, selbstherrlich, immer alles besser wissend usw., im Gegenteil, eigentlich bemüht sich jeder Kollege darum, ein guter Lehrer zu sein, was auch immer im Einzelfall darunter verstanden wird. Nur wie soll er das schaffen bei dem festgeschriebenen einheitlichen 45min-Takt der Unterrichtsstunden, meist über 25 Kinder starke Klassen, einheitlich vorgegebenen Lernstoff, einem engen Raster von Überprüfungen, Zwang zur Notengebung in Form von Ziffern, immer mehr bürokratischem Aufwand drumherum und und und….


Es geht einfach nicht

Den Anforderungen, denen man als Lehrer heutzutage in Deutschland gerecht werden will, kann man einfach nicht mehr entsprechen. Andere Länder haben aus der Erkenntnis ihre Schlüsse gezogen, ihr Schulsystem komplett umgekrempelt und die besseren PISA-Ergebnisse gaben ihnen recht. Aber nicht nur das, sondern auch die Stimmung in den Schulen dort ist eine andere geworden, kameradschaftlicher, arbeitsorientierter, gleichberechtigter, demokratischer, es macht mehr Freude, in die Schule zu gehen.
Auch in Deutschland gibt es Ansätze, Schule neu zu gestalten, anders zu arbeiten, dafür zu sorgen, dass Schüler, Lehrer (und Eltern!) sich in der Schule wohlfühlen und damit Lernen und Arbeiten besser gelingt.

Lernen und Behalten funktioniert nicht,
- wenn man Angst hat
- wenn es einem nicht gut geht
- wenn es nahtlos von einem Fach zum anderen übergeht
- wenn alle dasselbe machen und lernen sollen
- wenn es zu laut oder zu leise ist
- wenn man lieber anders lernen möchte als vorgegeben
- wenn es zu langweilig oder zu anstrengend ist
- wenn man sich gar nicht für das Thema interessiert
- …………

Lernen geschieht nicht nur durch Belehrung, das sogar noch am allerwenigsten, sondern durch selber machen, selber erfahren, nachmachen, ausdenken, erforschen, versuchen, scheitern, neu beginnen, umdenken, ausprobieren, üben, Erfolg haben, Bestätigung finden.

Das alles ist im normalen Schulalltag fast nicht möglich, es klappt nur, wenn alte überlieferte Strukturen aufgebrochen und durch eine selbstlernende Organisation ersetzt werden. Viel zu viele Gesetze, Erlasse, Vorschriften erschweren eigenverantwortliches und kreatives Handeln.


Neue Funktion der Lehrer

Wenn Schüler sich ihren Stoff selbst erarbeiten sollen, wenn selbstorganisiertes, eigenverantwortliches Lernen und Arbeiten angesagt ist, sehen viele Lehrer ihre überlieferte Rolle dahinschwinden und fragen sich, was sie denn dann überhaupt noch in der Schule für eine Funktion haben können, wenn sie nicht "unterrichten". Sicherlich stellt diese Frage das herkömmliche Selbstbild des Lehrers auf den Kopf, und dem Nachdenken über die Konsequenzen darf sich heute niemand mehr entziehen.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, was gemeint ist:
Eine Kollegin betreut eine besondere Lerngruppe, die eigentlich sehr gute Voraussetzungen bekommen hat. Die Gruppe ist klein, die Kinder sind von der Intelligenz her eher überdurchschnittlich begabt, die Themenwahl steht sogar frei, was will man mehr, könnte man meinen. Aber völlig genervt und gestresst vom anstrengenden Sozialverhalten dieser Gruppe hat die Kollegin dem Wunsch der Gruppe nachgegeben, ein Projekt eigener Wahl in Angriff nehmen zu wollen. Die Kollegin fragte sich ernsthaft, ob sie dem denn wirklich so einfach stattgeben könne. Auf den Rat hin, doch erst einmal abzuwarten, zuzuschauen, nur in der Nähe zu sein und als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und die Kinder doch mal machen zu lassen, stellte sie ihr schlechtes Gewissen (aber ich tue dann ja gar nichts!!) hinten an und ließ sich auf diesen Versuch ein.
Nach nur drei, vier Wochen (mit je einer Doppelstunde) berichtete sie entspannt und freudig von ihren Erfahrungen. Die Gruppe arbeitet, sie haben sich arrangiert und zusammengerauft, vieles erledigt sich von selbst, sie kann freundlich und locker und völlig stressfrei in die Gruppe gehen, ihnen bei Bedarf mit Material und anderem helfen, kurz, alle Beteiligten fühlen sich wohl, jeder tut das, was zu tun ist, selbst Zweifel, ob das Projekt gelingen wird, sind nicht mehr so dramatisch, auch ein Scheitern würde einen Lernerfolg mit sich bringen.
Wenn es einem als Lehrer aber in seiner Arbeit gut geht, wird schnell geargwöhnt, dass der Kollege sich das Leben schön macht, indem er nichts tut. Niemand sieht dabei, dass man dann ja in der Zeit wiederum etwas anderes machen kann, was letztlich auch den Schülern zugute kommt, nur dass dies nicht so klar und direkt mit dem Unterrichtsgeschehen als solchem zu tun hat.  Noch viel wichtiger als die Arbeit, die man für andere tut, ist die Zeit, die man jetzt für andere hat. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen von uns Erwachsenen am meisten, dass wir Zeit und Geduld haben zuzuhören und nur dann wirklich zu helfen, wenn die Hilfe auch gewünscht wird und nötig ist.


Lehrer sein ist eine Dienstleistung

Das Unterrichten wird quasi als Bringschuld angesehen und so wird die Arbeit des Lehrers auch von vielen Eltern noch eingefordert. Wenn das Kind nichts lernt, ist der Lehrer schuld, dann tut er nichts oder nicht das richtige.
Lässt man das Unterrichten einfach mal weg in der Vorstellung und die Kinder das lernen, was sie wollen, ganz drastisch formuliert, dann ist der Lehrer "nur" noch Helfershelfer, Materialvorbereiter, Raumgestalter, Organisator, Raumaufschließer u.ä. Ist das nicht völlig unproduktiv und unbefriedigend?

Mitnichten. Jeder Kollege, der so arbeitet, berichtet von einem ganz anderen Selbstverständnis, das vor allem von der Hinwendung und der Geduld für jedes einzelne Kind und dessen Probleme und Eigenheiten geprägt ist.
Als Lehrer bin ich einfach da, als erster am Tag und ich gehe als letzter. Ich bin jederzeit Ansprechpartner und Kummerkasten, Tröster, Tippgeber, Antworter auf Fragen, für die ein Kind nicht selber die Antwort finden kann. Im Prinzip stelle ich damit alles das, was ich mal gelernt habe als angehender Lehrer, auf den Kopf.

 

Ja, aber……

Der berühmte Beginn aller Totschlagargumente. Warum immer gleich nach dem zunächst signalisierten Verständnis lauter Bedenken, Zweifel. Kritik anmelden? Es lohnt sich doch, über neues, unkonventionelles, ungewohntes erst einmal nachzudenken. Wenn man das nicht tut, bleiben doch viele Möglichkeiten ungedacht und unerschlossen. Was passiert, wenn man statt "Ja, aber…… "sagt und denkt "Warum eigentlich nicht?"

Wieder ein einfaches Beispiel:
Ich, Lehrerin, bin auch vergesslich. Normalerweise versuche ich mit allen Mitteln, dieses zu verhindern, mir Dinge aufzuschreiben, was rechtzeitig rauszusuchen usw, aber es gelingt mir längst nicht immer zu meiner Zufriedenheit. Und dann ist meistens so viel los, dass doch das ein oder andere im Kopf abhanden kommt. Statt verzweifelt zu versuchen, den Schülern den perfekten Nicht-Vergesser vorzuspielen, gebe ich zu, dass es mir passiert, und wir suchen gemeinsam nach einer Lösung für mein Problem. Vor allem, wenn den Kindern durch meine Vergesslichkeit Nachteile entstehen, sind sie als Betroffene natürlich an einer Lösung interessiert. Nun habe ich ein Hausaufgabenheft, in das die Kinder, die etwas von mir berechtigterweise mitgebracht oder erledigt haben wollen, hineinschreiben, zu wann ich an was denken muss. Das klappte zeitweilig schon ganz gut.
Und weil mir selbst das Vergessen passieren kann, bringe ich es nicht übers Herz, Schüler für Vergessenes zu bestrafen, was auch nichts bringt. Es ist doch schließlich ihr eigenes Problem, wenn sie sich selber an irgendeinem Tun hindern durch ihre Schusseligkeit. Sie selber müssen doch für sich registrieren, dass Vergessen einfach unpraktisch ist und oft mehr Arbeit nach sich zieht. Ich habe als Schülerin selber von einer Lehrerin mal den Spruch abbekommen: Was hast Du dir eigentlich dabei gedacht, die Geige zu vergessen? …..Sie sah nicht das Fragezeichen auf meiner Stirn, wie ich mir denn beim Vergessen was gedacht haben könnte, dann hätte ich doch nichts vergessen!!!!
Wenn man sich angewöhnt hat, die eigenen Verhaltensweisen auf Sinnig- oder Unsinnigkeit zu beobachten, stellt man fest, dass man in der Schule Dinge macht, die man als normaler Mensch zuhause, in der Erziehung der eigenen Kinder nie machen würde. Oder musste schon mal Ihr Kind eine Hausordnung abschreiben, damit es sie einhält????


Helma von Nitzsch April 2005

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