Sonntag, 22.7.2001

Tag 17

Lettland

Route: Riga-Saulkrasti-Ungeni

Als mich Riga am Morgen auf einer teilweise sechspurigen Autobahn wieder ausscheidet, steht der Hebel auf ein viertel Kraft voraus.Wie bei einem alten Kahn, von dem man nicht weiß, ob er den nächsten Hafen erreichen wird.

Ich lausche auf die Signale meines rechten Beines.Funkstille.Keine Schmerzen.100 Kilometer ist das Ziel, schön langsam.

Ich kann nur hoffen, daß Gott damals als er die Erde schuf, das Stückchen Landschaft das heute vor mir liegt möglichst flach gemacht hat.Er hat.Flach wie eine Tischplatte.

Nach 87 Kilometern plötzlich ein Schild am Straßenrand.Campingplatz.Ein Wunder.Einer mit Rezeption, Dusche, viele Leute.Hier fühle ich mich sicher.Traumstrand.Ostsee.Urlaub.

Ich bekomme Nachrichten aus Berlin auf mein Handy.Ich soll den Kontakt zur Landbevölkerung möglichst meiden.Sie könnten herausfinden, wo ich hinwill und dann die Chance nutzen mich zu überfallen.Und ich soll am besten sofort das Baltikum verlassen.Banden,Mafia...!

Nun gut, ab morgen bin ich in Estland, und dann hoffentlich bald wieder in der westlichen Welt: Finnland!!!

Ich hatte bis jetzt in Litauen und Lettland immer ein wenig Angst und schlechte Gefühle gehabt, und meine Verdauungsprobleme sind sicherlich darauf zurückzuführen.Ich fühle mich unwohl hier.Irgendetwas stimmt hier nicht.

Als ich heute durch Riga fuhr, blieb eine Omi stehen als sie mich sah und lächelte.Strahlte über das ganze Gesicht und freute sich.Ich lächelte zurück und freute mich auch.So gefällt mir das.Aber nicht diese Glotzerei, diese Neid-Mißtrauens-Haß-Ärger-Blicke.Ich kann das langsam nicht mehr ertragen!Nette Begegnungen gibt es leider nur sehr selten hier.Ich weiß nicht, warum.

Die Menschen sind arm, und wenn ich pleite bin habe ich auch schlechte Laune.Das kann ich verstehen.Aber in anderen Ländern haben die Leute noch weniger als hier und die lachen und feiern trotzdem den ganzen Tag.

Heute fuhr ich nur durch Waldgebiete.Und über viele, langweilige Geraden.Der Wind war heute wieder sehr freundlich.Er kam mir entgegen.Aus Nord/Nordost.Mir egal, ich kämpfe heute nicht gegen den Wind an.Ich fahre so schnell, wie der Wind mich eben lässt.

Heute Nachmittag auf der A1:Lange Gerade durch den Wald, auf vier Kilometern Sicht kein Verkehr.Weder von vorne noch von hinten.Dann nähert sich ein LKW von hinten.Und dieses beschissene Arschloch überholt, ohne dabei auch nur einen einzigen Zentimeter nach links zu fahren! Die ganze beschissene, elendsbreite Fahrbahn war doch frei!Ich brettere in den Straßengraben, falle beinahe auf die Fresse, kann mich nur mit einem zirkusreifen Balance-Akt retten.

Was haben diese LKW-Deppen eigentlich im Hirn? Zu faul, das Lenkrad mal einen halben Zentimeter nach links zu bewegen? Ich fluche dem Arschloch sonstwas hinterher, und er kann froh sein daß ich mit meinem Fahrrad viel langsamer als er bin.

Immer noch auf der A1, heute Nachmittag.Ein weißer Lieferwagen kommt mir entgegen, stoppt hundert Meter hinter mir, wendet und überholt mich dann ganz langsam.Dann fährt das Auto weiter und ein paar Minuten später kommt es mir nochmals entgegen, stoppt abermals hinter mir und fährt dann aber weiter.Was ich davon halten soll, weiß ich auch nicht.

Heute war endlich mal wieder kochen vor dem Zelt angesagt.Nudeln, Zwiebeln, Knoblauch.Die Tomatensoße aus Polen, die ich noch aus einer meiner Taschen zauberte, hat aber leider nicht geschmeckt.Danach wollte ich noch ein Brot backen, sogar mit Trockenhefe.Das ist aber leider nichts geworden.Also nächstes mal dann wieder Bannok, das gelingt immer!

Bei näherer Betrachtung hat der Traumstrand so seine kleinen Macken.Hie und da läuft irgendeine braune Brühe rein, da und dort liegt Müll rum.Aber heute gibt es mal einen schönen Sonnenuntergang!Den warte ich jetzt noch ab.

Das letzte Bild aus Lettland...

Tageskilometer: 87,83

Zeit: 5:09

Ø: 17,0 km/h

Gesamtkilometer: 1759

Gesamtzeit: 95:27

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Montag, 23.7.2001

Tag 18

Lettland/Estland

Route: Ungeni-Salagciva-Grenze Lettland/Estland-Pärnu-Pürnu Jaagupi

Nach 31 Kilometern erreichte ich um 9.30 Uhr MESZ die Grenze Lettland-Estland.Dort halte ich erstmal einen kleinen Schwatz auf deutsch mit einem estnischen Grenzbeamten.Ich komme aus Berlin? Warum war ich denn nicht auf der Love-Parade? Schwer zu sagen. Ich war irgendwo mit dem Fahrrad unterwegs zu der Zeit...

Mit dem Grenzübertritt gewinne ich eine Stunde Meine Uhren gehen wieder richtig.

Die nächste Möglichkeit, Geld zu tauschen und einzukaufen erst in Pärnu, und das ist 60 Kilometer von der Grenze entfernt.Na dann mal in die Pedale!

Pärnu erreiche ich dann um 13.30 Uhr, nach 96 Kilometern.Bankbesuch.Ich tausche meine Lats in estnische Kronen.Ich halte auf einmal fast 4000 davon in meinen Händen.Ich bin reich.

War Pärnu heute morgen noch mein Tagesziel, entschließe ich mich dennoch weiterzufahren, da es jetzt erst ca. 14.00 Uhr ist und alles, was ich heute schaffe auf dem Weg nach Tallinn, morgen nicht mehr kurbeln muß.

So geht das manchmal stundenlang...

Heiß war es heute wieder mal.Ich machte viele Pausen.Manchmal kilometerweit kein Schatten.Mein Thermometer am Lenker zeigte astronomische Werte.Klar, der hängt ja auch die ganze Zeit an der Sonne.Ich tippe mal auf 33 Grad im Schatten.Mindestens.

In Pärnu noch in bester Form, holte mich die Hitze und die Strapazen des Tages doch schon nach weiteren 30 Kilometern von der Straße.Feierabend.Keine Lust mehr.Schlapp.

Am Straßenrand ein kleines, schnuckeliges Motel.Ehemaliger Bauernhof.Ich frage mal nach dem Preis.20,- DM incl. Frühstück?Da brauche ich nicht lange zu überlegen.Familienbetrieb, ich bin der einzige Gast.Egal.Wenigstens ist es dann schön ruhig.

Mein Bein ist wieder völlig regeneriert.Gut.Will morgen Tallin erreichen und dann mit einer Fähre nach Helsinki übersetzen.

Abends dann gemütlicher Tagesausklang im Hof.Abendsonne.Ich trinke ein Bierchen, Autos zischen auf der Straße vor dem Motel vorbei.Komisch.Viele, die da so von links nach rechts brausen, fahren nach Tallinn.Und sind vielleicht schon in 60-90 Minuten dort.

Menschen in fahrenden Geschossen.Wahnsinn auf Rädern.

Ich bin froh, daß mein Rad bis jetzt ohne eine einzige Panne durchgehalten hat.Nicht mal einen Platten.Meine treue Seele.Auf mein Rad ist verlass.Ohne mit der Wimper zu zucken trug es mich und mein ganzes schweres Gepäck fast 2000 Kilometer weit über Schotter, Kopfsteinpflaster, Schlaglöcher, Scherben, Hoppel-Pisten.Ich habe das Beste Fahrrad der Welt.

Danke, liebes Fahrrad! Weiter so!

Tageskilometer: 121,24

Zeit: 6:25

Ø: 18,8 km/h

Gesamtkilometer: 1880

Gesamtzeit: 101:54

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Dienstag, 24.7.2001

Tag 19

Estland/Finnland

Am Morgen steht ein Mütterchen mit einem alten Klapprad am Straßenrand, ruft irgendwas und winkt, freut sich.Ich winke zurück und freue mich auch.Das gibt mir Power für die nächsten 10 Kilometer.

Heute wieder mieser Gegenwind.Aus Nord, ziemlich exakt.Besonders schlimm ist es auf der Autobahn, die vierspurig nach Tallinn führt.Ich strample wie ein Hamster im Laufrad.Trete fast auf der Stelle.

Immer wieder suche ich unterwegs Tankstellen auf.Ich brauche Treibstoff.Der Treibstoff für meine Triebwerke ist schwarz und hat ein rotes Etikett an der Flasche.

Coca-Cola.Purer Zucker.Ich brauche davon ungefähr 2 bis 3 Liter auf 100 Kilometer.

Bei Kilometer 1975 erreiche ich um 14.00 Uhr MESZ die estnische Hauptstadt Tallinn.Ein erstes, großes Ziel ist erreicht.

Die Straße, diese verdammt lange Straße, die mich von Berlin bis hierher gequält und beinahe alles von mir gefordert hat, und der Wind, der unbarmherzige Wind, der alleine in den letzten fünf Tagen nur noch von vorne kam, ist besiegt.

Here I am...

In Tallinn fahre ich direkt zum Hafen.Keinen Bock auf Sightseeing.Tut mir leid.Fähren Check-In, Auto-Express-Katamaran mit Tallink.Dieses Geschoß beamt mich innerhalb von 90 Minuten nach Helsinki und verbraucht dabei ca. 70 Millionen Liter Schweröl.Heute ist mir das egal.Ich will raus aus dem Baltikum.

Die nette Dame am Schalter schickt mich und mein vollbepacktes Rad zum Ausgang, den die Fußgänger benutzen wenn sie zur Fähre gehen.Mit einer gewissen Vorahnung weise ich darauf hin, daß ich auf dem Fahrrad eine Menge Sachen mit mir rumschleppe, aber die Frau sagt, das sei schon in Ordnung so.

Nach der Passkontrolle geht es dann auf diversen langen Gangways wie am Flughafen in Richtung Fähre.Dann aber der Alptraum:Vor mir plötzlich 20 Treppenstufen! Verdammt.So eine Scheiße.Ich muß jetzt in dem Gedränge, die die vielen Leute verursachen, in dieser ruppigen Atmosphäre alle Taschen vom Rad nehmen und alles über diese blöden Stufen nach oben schleppen.

Insgesamt dreimal muß ich rauf und runter gehen.Es wird gerempelt.Die Leute regen sich auf.Ich würde den Weg blockieren.Jetzt kriege ich langsam richtig schlechte Laune.

Am Eingang zum Schiff muß der Kartenabreisser dran glauben.Ich tobe.Jedes 3. und 5. Wort ist "shit" und "fuck".Und des Kartenabreissers jedes 3. und 5. Wort ist "relax" und "relax".Diese Schlepperei!

Auf die Frage, ob denn alle Radler hier so einsteigen müssten, sagt der Heini dann auch noch "yes"!

Bequemer Money-Exchange am Fährhafen in Helsinki.Da kriege ich auch einen Stadtplan.Die Finnen haben mir übrigens auch eine Stunde geklaut. Die Uhren gehen hier wieder mal eine Stunde vor.

Bettsuche.Tourist-Information am Bahnhof: Geschlossen.In der Fußgängerzone zeigt mir ein junger Finne anhand meiner Karte die billigen Absteigen.Ich gehe auf die Suche.Komme irgendwie nicht klar.Aber jedesmal, wenn ich mit meiner Karte an einer Ecke stehe und so auf die Schilder mit den Straßennamen schaue, kommt einer und fragt, ob er mir helfen könne.Von sich aus!

Ungefragt!

DAS TUT MIR IN DER SEELE GUT!!!

Diese Freundlichkeit der Menschen hier! Fast alle haben ein Lächeln auf den Lippen! Nach den Tagen im Baltikum kommt mir Helsinki vor, wie das Paradies auf Erden.Ich fühle mich sofort sehr, sehr wohl hier!Ich bin total gerührt und hin und weg.

Dom in Helsinki

Die Jugendherberge, die ich nach einer halben Stunde finde, ist voll bis unters Dach.Man nennt mir dort ein billiges Hotel in der Nähe.Auch voll.Dort kriege ich die Adresse von Fenno, Finnappartements.Ich kurve wieder durch halb Helsinki.

Es wird schon spät, mittlerweile 22.00 Uhr.Ich finde Fenno schließlich und kriege ein kleines Appartement.Ich kann auf dem Zimmer kochen.Mache ich auch.Riesentopf mit Nudeln mit zwei Packungen Asia-Snacks zusätzlich.Der Ranzen platzt. Ich trinke grünen Tee.Ich habe hier wohl das letzte freie Bett erwischt, das man in Helsinki für Geld kriegen kann.

Irgendwo in Helsinki passierte es heute, und ich habe nichtmal darauf geachtet.Der Kilometerzähler springt auf 2 0 0 0!In insgesamt 19 Tagen.Bin einigermaßen zufrieden.

Ich habe in den letzten Tagen die Währungen in meiner Brieftasche, die Zeitzonen und die Netze auf meinem Handy gewechselt wie früher vielleicht Hans-Dietrich Genscher als Bundesaußenminister oder andere Leute vielleicht ihre Unterhosen.Irgendwie gefällt mir das.

Was ist los mit den Menschen in Litauen, Lettland und Estland?Ok, Estland mal außen vor, war ja nur Transitland für mich, habe ich ja in 24 Stunden durchquert.Aber Litauen,Lettland?

Ihr mögt keine Fremden, glotzt nur, seid unfreundlich!Sorry, aber so ist es.Ich hatte die ganze Zeit mulmige Gefühle in der Magengegend, Durchfall.Und das hat wohl seine Gründe.Der Körper merkt sehr wohl genau, daß hier was nicht stimmt.Also, wenn Autos mitten im Wald bei freier Strecke langsam überholen oder wenden, und finstere Gestalten glotzen raus um mich und mein Rad näher zu betrachten, was soll ich denn davon halten? Wir schauen mal, ob es sich lohnt, oder was?

Übrigens waren meine Beschwerden, also Durchfall und so weiter, fast gleichzeitig mit der Einreise nach Finnland verschwunden.

Ein Radlerkollege aus Berlin ist vor ein paar Wochen in Litauen zusammen mit seinem Freund mit Pistolen und Baseballschlägern überfallen worden, und auf die beiden wurde sogar geschossen.Er riet mir, nach 18.00 Uhr die Straßen in Litauen und Lettland zu meiden.

Von ihm erhielt ich auch folgende Infos:Organisterte Banden und Mafia treiben an den Küsten ihr Unwesen.Tschetschenische Untergrundkämpfer verüben terroristische Anschläge in den Urlaubergebieten. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 140,- DM.Arbeitslosenhilfe gibt es selten, und wenn, dann nur ca. 40,- DM im Monat.Die Beschaffungskriminalität avancierte mittlerweile vielerorts zum Überleben.

Ich habe auf solche Länder überhaupt gar keinen Bock!Da kann ich mir ja gleich Tschetschenien oder von mir aus auch gleich Kolumbien als Radl-Land aussuchen.Da weiß ich aber wenigstens, was mich erwartet und kann mich darauf einstellen.

Ich habe vor der Tour Reiseführer, Infos vom ADFC, Bikebücher, Reiseberichte, Infos vom Auswärtigen Amt, und was weiß ich was noch alles gelesen.Aber überall kann man im Prinzip nur folgendes erfahren: Ab nach Litauen, Lettland, Estland! Kein Problem, alles supertoll, wunderbar, das Radl- und Urlaubsparadies.Aber diese Länder sind für jeden Reisenden ein Minenfeld, ein Lotteriespiel.

Tageskilometer: 121,16

Zeit: 6:57

Ø: 17,4 km/h

Gesamtkilometer: 2001

Gesamtzeit: 108:51

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Mittwoch, 25.7.2001

Tag 20

Finnland

Route: Helsinki-Espoo-Ekenäs Tammisaari

Am Vormittag kurzes Sightseeing in Helsinki.Dann raus aus der Stadt.Ich bin aber immer wieder auf die Autobahn gestoßen, die Suche nach einer befahrbahren und für Radfahrer erlaubten Straße erwies sich als etwas kompliziert.

Dann aber fuhr ich auf einer sehr guten Straße, die zwar stark befahren war, mir aber einen sehr breiten Seitenstreifen bot.Ich entschied mich, nicht direkt nach Turku zu fahren, sondern einen kleinen Umweg an der Küste entlang zu nehmen.Diese Route erschien mir reizvoller, wenngleich ich auch dafür etwas mehr Kilometer in Kauf nehmen musste.

Schon wieder große Hitze heute.Ich machte oft Pausen im finnischen Wald.Schatten.Ja.Aber wenigstens hatte ich heute ein leichtes Lüftchen im Rücken.Danke.

Nachmittags machte ich Einkäufe in Karis Karjaa, machte Rast auf dem Dorfplatz.Fühle mich frei.Endlich.Ich werfe mich in die Wälder, an den Straßenrand, wo immer ich Lust dazu habe.Das ist soo schön.

Dann der Campingplatz.Gute Beschilderung, 3-Sterne-Camp.Dusche, Laden. Alles da.Ich koche vor dem Zelt, es gibt heute Reis und Steak.Ich ziehe einen Hering aus der Erde und öffne damit mit einem Ruck eine Flasche Lapin Kulta-Bier.Ich bin ein König.Heute.

Eine Radlerin aus Finnland baut ihr Zelt neben meinem auf.Sie ist unterwegs zu einem Musikfestival.Netter Talk.Ich habe schon ewig mit niemandem mehr gequatscht.

Tageskilometer: 106,35

Zeit: 5:34

Ø: 19,0 km/h

Gesamtkilometer: 2107

Gesamtzeit: 114:24

                 

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