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Die Blockflötenspielerin
(rabi)
 

An diesem Samstag des zweiten Advent stand Rudolph wieder auf dem Bahnsteig der
U-Bahn-Station Berliner Straße. Er hoffte darauf, sie wieder zu sehen, so wie an 
den vergangenen Samstagen auch: Diese junge Frau mit den blondgelockten Haaren und 
den kleinen blauen Augen. Sie war ihm auf den ersten Blick aufgefallen. Dabei sah 
sie eigentlich ganz durchschnittlich aus, nicht geschminkt, kein Schmuck, schlichte 
Kleidung. Doch für ihn hatte sie etwas Mysteriöses, ja sogar fast Unheimliches an 
sich.  Irgend etwas an dieser Frau zog ihn magisch an. Was genau das war, konnte 
sich Rudolph aber nicht erklären. Aber er wollte es herausfinden, wollte erkunden, 
wer diese Frau war. 
Der Bahnsteig war voller Menschen. Rudolph ließ seinen Blick langsam umherschweifen, 
ob er sie erblicken könnte. Ihre Figur, ihre Größe, ihre blonden, lockigen Haare. 
Er würde sie sofort wiedererkennen, selbst auf größere Entfernung. Trotz ihres 
eigentlich durchschnittlichen Aussehens war sie für ihn einmalig. 
Die Linie 7 fuhr ein. Unschlüssig stand Rudolph auf dem Bahnsteig. Sah zu, wie die 
Menschen sich in die Waggons drängten. Einsteigen oder noch warten? Was wäre, wenn 
er jetzt einstiege, und sie käme erst eine Viertelstunde später? Vielleicht sollte 
er doch noch auf die nächste Bahn warten.
Schon ertönte die Klingel, das Zeichen zum Schließen der Türen, als eine kleine 
blondgelockte Frau mit einem Beutel in der Hand aus dem Bahnhofsgebäude gerannt 
kam und noch in den ersten Waggon sprang. Ja, sie war es. Es gab keinen Zweifel!  
Mit einem Sprung hechtete Rudolph zur Bahn, konnte die sich schließende Tür gerade 
noch auseinander drücken und sich in den Waggon quetschen - den hintersten. 
Doch wo würde sie aussteigen? Sollte er an der nächsten Haltestelle seinen Platz 
Waggon verlassen und dann nach vorne rennen, japsend dort ankommen? 
Noch hatte er Zeit zum Überlegen. Bis zum Bayerischen Platz waren es etwa drei 
Minuten. Eigentlich hatte Rudolph gar keinen genauen Plan, was er eigentlich von 
ihr wollte. Sie einfach beobachten? Mehr über diese mysteriöse Unbekannte heraus 
finden! Was war es genau, dass ihn an ihr so faszinierte?  Es war nur so ein 
unbestimmtes Gefühl, das ihm sagte, dass... 
Die Tür ging auf. Rudolph blieb unschlüssig im Waggon sitzen. Die mittleren und
vorderen Waggons waren noch voller als der, in dem Rudolph saß. Man käme da ohnehin
kaum hinein. Hier hatte er immerhin einen Sitzplatz. Also wollte er doch vorerst 
hier im letzten Wagen bleiben. Gerade ertönte wieder die Klingel, da fiel sein 
Blick durch die Scheibe auf den Bahnsteig: er konnte gerade noch sehen, wie SIE 
in das Bahnhofsgebäude ging. 
Rudolph sprang auf, riss ein im Gang stehendes Kind fast zu Boden. Die zufallende 
Tür knallte ihm gegen den rechten Arm. Doch er schaffte es gerade noch, sich aus 
der Bahn heraus zu schwingen. Nun stand er auf dem Bahnsteig. Sein Arm schmerzte 
noch etwas, doch das war ihm jetzt unwichtig. 
Da sah er das Schild auf dem Bahnsteig: Himmelspforte. Diese Station war ihm sonst 
nie aufgefallen. Dabei war er die Strecke schon unzählige Male gefahren. 
Rudolph betrat die Bahnhofshalle. Ihr Vorsprung konnte eigentlich nicht sehr groß 
sein. Die Halle war menschenleer. Trotzdem konnte er die Frau nirgends erblicken. 
Er schaute sich um. 
Hatte sie den Bahnhof bereits verlassen? Rudolph ging hinüber zum Ausgang, schaute
nach draußen, doch es führte keine Straße vom Bahnhof ab.  Es sah eher aus wie 
eine stillgelegte Station. Wo war er hier? Himmelspforte - diesen Namen hatte er 
noch nie gehört. 
Warum hatte die Bahn überhaupt hier gehalten? Warum war SIE ausgestiegen? 
Eigentlich sollte er doch jetzt schon in der Stadt sein und Weihnachtseinkäufe 
erledigen. Stattdessen stand er in einem verlassenen Gebäude und wartete auf eine 
Frau, von der er absolut nichts wusste. Allmählich wurde es ihm unheimlich. 
Trotzdem spürte er, dass diese Frau für ihn etwas ganz Besonderes bedeutete. 
Plötzlich hörte er leise Musik. Jemand spielte auf einer Flöte "Stille Nacht, 
heilige Nacht". Die Musik musste aus dem Tunnel an der gegenüberliegenden Seite 
der Halle kommen. Er folgte den Tönen, konnte aber niemanden sehen, da der Tunnel 
einen Bogen machte. Die Musik wurde lauter, deutlicher. Rudolph bog um die Ecke. 
Und da auf dem Boden saß SIE, diese junge blondgelockte Frau und spielte auf ihrer 
Blockflöte. Rudolph vernahm, wie sein Herz klopfte und seine Knie weich wurden. 
Noch nie war er dieser Frau so nahe gewesen. Er wagte kaum zu atmen.  
Er blieb stehen und hörte dem Flötenspiel fasziniert zu, wartete, bis sie das Lied 
zu Ende gespielt hatte.  Er beugte sich zu ihr hinunter, um ihr ein Silberstück in 
die Hand zu geben, so wie er es auch sonst bei Straßenmusikern machte. Er sah ihr 
dabei in die Augen. "Sie spielen sehr schön", sagte er.
"Danke, das höre ich gerne", entgegnete sie. Sie hatte eine wunderbar sanfte 
Stimme. Und dann diese wunderschönen blauen Äuglein, die ihn anstrahlten! 
Sie schien sich zu freuen, dass jemand ihr Spiel beachtete.  
Doch noch immer hatte sie dieses Mystische an sich. Er konnte sich nicht 
erklären, was es war. Nein, das war keine Frau wie jede andere! War sie eine Fee, 
eine Zauberin? Rudolph war verwirrt, doch gleichzeitig fasziniert. Warum saß sie 
hier im Tunnel eines verlassenen Bahnhofsgebäudes und spielte Weihnachtslieder 
auf einer Blockflöte?
Die Frau lächelte ihn an: "Willkommen in Himmelspforte - dem Eingang zum Himmel. 
Ich bin ein Engel. Aber nur wenige Menschen können das erkennen. Die meisten 
folgen nur dem äußeren Schein, lassen sich blenden von Geld und teuren Geschenken. 
Du aber bist mir und meiner Musik gefolgt, hier nach Himmelspforte." - Dabei stand 
sie auf und ergriff seine Hand.  "Komm mit", sagte sie, "lasst uns weiter durch den 
Tunnel gehen, direkt in den Himmel."
 



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