Eine Geschichte über Freundschaft

Alina geht mit ihrer Mutter zum Kinderarzt. Sie hatte eine Erkältung und der Arzt möchte noch einmal in ihre Ohren sehen. Damit auch alles in Ordnung ist. Als sie in der Praxis ankommen, ist im Wartezimmer jeder Platz besetzt. "Dann müssen wir ganz schön lange warten", sagt Alinas Mutter leise zu ihrer Tochter. "Mama, das ist nicht schlimm. Ich gehe schon mal in die Spielecke", antwortet die Kleine. Inzwischen hängt ihre Mutter die Mäntel auf.
In der Spielecke ist viel los. Viele Kinder beschäftigen sich hier. So wird es niemandem langweilig. An einer Seite steht ein kleines Mädchen. Ein wenig größer ist es als Alina. Das glaubt zumindest Alina. Sie kann es nicht richtig erkennen, denn das andere Mädchen sitzt in einem Rollstuhl. Sie nimmt sich ein Bilderbuch, muss das fremde Mädchen aber immer wieder ansehen. Plötzlich spricht eine ältere Frau sie an: "Das tut man aber nicht, kleines Fräulein. Man schaut einen so armen Menschen nicht ständig an". Alina wird rot und schämt sich ein wenig. Dann schaut sie das Rollstuhlmädchen an und beide lächeln sich zu. Die Frau schaut pikiert an die Seite. Alina blickt das Mädchen fragend an. Es nickt zurück und Alina steht auf, um zu der Kleinen zu gehen. Neben ihr ist ein Kinderstühlchen frei. Dorthin setzt sich Alina jetzt. "Ich heiße Nele", fängt die Fremde an zu reden. "Wie heißt du?". "Ich heiße Alina", antwortet diese. Bald schon sind sie sich nicht mehr fremd. "Ich habe dich hier noch nie gesehen". "So oft muss ich nicht zum Arzt. Ich bin ziemlich gesund", antwortet Nele.
Alina überlegt. Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, ist der doch krank? "Hast du keine Schmerzen?" fragt sie Nele. "Nein", lacht diese, "mir tut nichts weh. Ich kann nur nicht laufen. Der Doktor muss nur manchmal nachsehen, ob alles in Ordnung ist". Alina staunt das Mädchen an. "Meine Krankheit heißt Spina bifida. Was das genau ist, weiß ich nicht. Aber ich bin damit geboren". "Das hört sich ja lustig an. Wie Spinat", sagt Alina. Beide Mädchen prusten los. Alinas Mutter hat sich zu Neles Mutter gesetzt. Die beiden schauen jetzt herüber, was ihre beiden Kleinen so lustig finden. "Schön, dass unsere Töchter sich so gut verstehen", sagt Neles Mutter. Die Arzthelferin kommt und ruft Nele zum Doktor. "Ach, wie schade", sagt Nele. "Tschüß, Alina. Vielleicht treffen wir uns mal wieder". "Ja, vielleicht. Tschüß, Nele", antwortet Alina. Schade, denkt sie. Das wäre eine Freundin für mich. Einige Tage später geht Alina mit ihrer Mutter zum Supermarkt. "Mama, darf ich draußen bleiben. Drinnen ist es immer so voll. Ich bin auch vorsichtig. Hier sind so viele Vögel, denen kann ich zusehen".
"Gerne, meine Kleine", antwortet diese. "Aber lauf nicht auf die Straße". Vier Tauben laufen auf dem Gehsteig. Alina beobachtet sie und möchte ihnen nachlaufen. Sie fliegen aber leider weg. Als Alina der letzten Taube hinterher sieht, kommt Nele mit ihrer Mutter zum Einkaufen. Das ist eine Freude! "Wie schön, dass wir uns so schnell wieder treffen", lacht Nele.
"Mama, darf ich hier draußen bei Alina bleiben? Drinnen ist es so eng. Du weißt doch, dass wir mit dem Rollstuhl immer vorsichtig sein müssen, damit ich nichts umfahre".
"Na gut, ihr beiden. Sicher habt ihr euch auch etwas zu erzählen", lacht Neles Mutter und geht in den Laden. "Gehst du auch in einen Kindergarten?", fragt Alina. Zaghaft fragt sie das, weil sie nicht weiß, ob Kinder im Rollstuhl in einen Kindergarten können. "Aber ja", antwortet Nele. "Ich gehe gleich dort hinten in den Waldorf-Kindergarten. Die sind alle sehr nett dort. Es macht mir viel Spaß". "Schade, dass du nicht in meinen gehst. Dann würden wir uns immer sehen", entgegnet Alina. "Ja, das wäre lustig", lacht Nele. Sie erfährt, dass Alina 5 Jahre alt ist. "Ich bin schon 6. Im Sommer komme ich in die Schule", erzählt Nele.
"Darauf freue ich mich schon sehr". "Ich komme nächstes Jahr auch in die Schule", antwortet Alina. Viel haben sie zu reden. Als die Mütter aus dem Laden kommen, erzählen sie den beiden Mädchen, dass Alina mit ihrer Mutter morgen zu Besuch zu Nele und ihrer Mutter gehen werden. "Wie schön", rufen beide Mädchen. "Dann bis morgen", verabschiedet sich Alina, und alle winken sich zu. Am nächsten Morgen ist Alina ganz aufgeregt. "Muss ich heute in den Kindergarten, Mama?", fragt sie beim Frühstück. "Natürlich, mein Mädchen. Aber nachmittags gehen wir Nele besuchen". Alina freut sich schon darauf. Nachmittags machen sich beide auf den Weg. Nele und ihre Familie wohnen eine Straße weiter. Sie sind erst vor kurzem hierher gezogen. Als sie zu dem Haus kommen, in dem Nele wohnt, staunt Alina.
"Mama, sieh nur. Dort kann Nele aber wunderbar hochfahren. Das macht sicher Spaß, dort runterzurollen". Vor dem Hauseingang ist eine Rampe festgemacht, so dass Rollstühle und Kinderwagen gut hoch- und runterfahren können. Die Familie wohnt in einem Einfamilienhaus, so dass Nele mit dem Rollstuhl sicher ins Haus kann. Alina klingelt und Nele öffnet die Tür. "Schön, dass du kommst. Komm, ich zeig dir gleich mein Zimmer", ruft sie.
Mama geht mit Neles Mutter ins Wohnzimmer, und Alina folgt Nele ins Kinderzimmer. Vorsichtig sieht sie sich um. Viele Spielsachen hat Nele. Genauso wie sie selbst. Was steht aber dort in einer Ecke? Groß und weiß? "Ist das ein Klavier?" fragt Alina mit großen Augen.
"Ja natürlich", lacht Nele. "Das siehst du doch. Hast du noch nie eines gesehen?" fragt sie. "Doch, in einem Geschäft. Bei uns kann niemand Klavier spielen. Meine Mutter kann aber gut singen. Sie singt in einem Chor", erzählt Alina. Zögernd geht sie zum Klavier. "Ich könnte das sicher nicht. Ist es nicht furchtbar schwer, Klavierspielen zu lernen?" fragt sie. "Ich weiß nicht", antwortet Nele. "Meine Klavierlehrerin kommt hierher und zeigt mir immer, was ich machen muss. Sie sagt, ich bin ein Naturtalent". Beide lachen über dieses lustige Wort. Nele läßt sich nicht zweimal bitten und rollt zum Klavier. Sie muss erst die Bremsen am Rollstuhl feststellen, dann spielt sie Alina etwas vor. Die kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus.
"Was du kannst. Echt toll hört sich das an", sagt Alina. Anschließend klimpert auch Alina ein wenig auf dem Klavier. "Dafür kann ich nicht Ballett tanzen", sagt Nele. "Das könntest du aber". Alina überlegt. "Meine Mama hat auch schon gedacht, ob ich in eine Ballettschule gehen sollte", antwortet sie verträumt. "Dazu hätte ich wohl Lust". "Das wäre doch total lustig", freut sich Nele. "Wir werden dann ganz berühmt. Du bist die Tänzerin und ich spiele Klavier dazu". Beide amüsieren sich köstlich über diesen Plan. "Ich werde meine Mama fragen, ob ich bald in die Ballettschule gehen kann", überlegt Alina. Viel Spaß haben die beiden Mädchen an diesem Nachmittag miteinander. Als Alina sich später verabschiedet, hat Nele eine Idee. "Übermorgen muss ich wieder zur Krankengymnastik. Mama, kann Alina nicht mitkommen? Du weißt, dass Danni nichts dagegen hat, wenn ich jemanden mitbringe", fragt sie ihre Mama. "Ja, warum nicht?", antwortet diese. "Wer ist Danni?", fragt Alina neugierig.
"Das ist meine Krankengymnastin. Eigentlich heißt sie Daniela. Aber die ist echt nett", antwortet Nele. Es wird besprochen, dass Nele und ihre Mutter Alina übermorgen abholen werden. Mit ihrem Auto. Als es am übernächsten Tag an der Tür klingelt, springt Alina sofort los. "Mama, sie sind da. Tschüssi", ruft sie ihrer Mutter zu. Die Mutter bringt ihre Tochter an die Tür. Sie begrüßt Nele und deren Mama, während Alina staunend das Auto umkreist.
"Ihr habt aber ein großes Auto", staunt sie. "Es muss so groß sein, Alina", antwortet Neles Mutter. "Neles Rollstuhl muss hinten hineingeschoben werden. Dann muss sie nicht immer aussteigen". Das findet Alina sehr praktisch und setzt sich in den Kindersitz auf den Autorücksitz. Unterwegs unterhalten sich beide Mädchen angeregt. "Bist du nicht traurig, dass du nichts machen kannst?", fragt Alina ihre neue Freundin. "Du siehst doch, was ich alles kann", antwortet Nele. "Okay, ich kann nicht laufen. Aber dafür kann ich Klavier spielen. Wenn ich groß bin, gehe ich in einen Korbballverein. Das macht sicher viel Spaß", überlegt sie einen Moment. Dann erzählt sie weiter: "Viele Erwachsene, die auch im Rollstuhl sitzen, spielen Korbball. Das habe ich in der Rehabilitationsklinik gesehen. Ich hab oft dabei zugesehen. In einer riesengroßen Sporthalle". Nele erzählt noch mehr von dieser Klinik, als sie vor der Krankengymnastikpraxis halten. Alina staunt, wie leicht Neles Rollstuhl aus dem Auto gefahren werden kann. In dem Haus der Therapeutin ist ein Fahrstuhl, so dass es für Nele im Rollstuhl einfach ist, in die Praxis hinein zu kommen. Als sie oben ankommen, öffnet Alina die Tür und Nele rollt hinein. "Huhu, Danni! Ich bin da", ruft sie. Eine junge Frau kommt aus einem Zimmer und begrüßt Nele und ihre Mutter. "Wen hast du denn heute mitgebracht?", fragt Danni und gibt auch Alina die Hand. "Das ist meine neue Freundin. Sie heißt Alina. Wir haben uns beim Kinderarzt getroffen", antwortet Nele. "Schön, dass du mitgekommen bist, Alina. Du kannst gerne die Übungen mitmachen", lädt sie die Kleine ein.
"Na, dann wollen wir mal", lacht die nette junge Frau und schiebt Nele in einen Behandlungsraum. Ihre Mutter bleibt inzwischen in einer Sitzecke und liest eine Zeitschrift.
"Viel Spaß, ihr beiden", ruft sie den Mädchen hinterher. Neugierig folgt Alina Danni und Nele. Sie sieht zu, wie die nette Therapeutin Nele aus dem Rollstuhl hebt und sie auf eine rote Matte legt, die schon auf dem Fußboden ausgebreitet ist. "Setz dich dazu", bittet sie Alina.
Die zieht sich ihre Schuhe aus, krabbelt zu Nele auf die Matte, und beide albern erst ein wenig herum. Dann macht sie die Übungen mit, die Danni ihrer kleinen Patientin zeigt. Am Ende der Behandlung spielen die drei miteinander noch mit einem Gymnastikball Fangen. Das macht Spaß. "Puh, das geht ganz schön schwer, was Nele machen muß", sagt Alina zum Schluss zu Danni. "Ja, mein Kind, zum Spaß ist Nele nicht hier. Sie macht die Übungen aber auch schon eine ganze Weile", antwortet diese und setzt Nele wieder zurück in den Rollstuhl.
Alle verabschieden sich voneinander. Die Mädchen fahren mit Neles Mutter wieder heim.
Dort angekommen, fällt Alina noch etwas ein, als sie sich verabschieden will.
"Ich habe Sonntag Geburtstag und möchte dich einladen. Magst du um drei Uhr kommen?", fragt sie Nele. "Mama, darf ich?", fragt diese ihre Mutter. "Natürlich darfst du", antwortet ihre Mama. "Mit deinem Rollstuhl wird es ganz gut gehen, weil in Alinas Haus ein Fahrstuhl ist. Bei den letzten vier Stufen kommen wir gemeinsam zurecht". Beide Mädchen freuen sich auf Sonntag und verabschieden sich voneinander. Alina erzählt ihrer Mutter von dem aufregenden Besuch in der Krankengymnastik. "Hast du auch nicht vergessen, Nele zu deinem Geburtstag am Sonntag einzuladen?", fragt Alinas Mutter. "Wo denkst du hin", lacht die Tochter.
"Ich freue mich schon sehr, dass sie kommt. Die anderen Kinder werden staunen, was ich für eine tolle Freundin habe". Als Alina an diesem Abend ins Bett geht, denkt sie an ihre Freundin. Und an die Behandlung vom Nachmittag. Sie überlegt, ob sie Krankengymnastin werden soll, wenn sie größer ist. Wie Danni. Das würde ihr Spaß machen. Oder ich werde Ärztin. Dann kann ich Nele vielleicht wieder ganz gesund machen, denkt sie, bevor sie einschläft...............

© Karin Ernst

Am äußersten Meer

Ein paar große Schiffe waren hoch hinauf nach dem Nordpol ausgesandt, um zu erforschen, wie weit das Land dort in das Meer reichte und festzustellen, wie weit Menschen dort vordringen könnten. Schon seit Jahr und Tag waren sie unter großen Beschwerlichkeiten zwischen Nebel und Eis dort oben umher gesteuert. Nun hatte der Winter begonnen, die Sonne verschwand, lange, lange Wochen würden hier zu einer einzigen Nacht werden. Alles ringsum war ein einziges Stück Eis, und fest lag darin das Schiff vertäut, der Schnee lag hoch und aus dem Schnee selbst wurden bienenkorbähnliche Hütten errichtet, einige waren groß, wie unsere Hünengräber, andere nicht größer, als daß sie zwei oder vier Männer fassen könnten. Aber dunkel war es nicht; die Nordlichter glänzten rötlich und blau, es war wie ein ewiges großes. Der Schnee leuchtete, die Nacht hier war eine lange schimmernde Dämmerung. In der hellsten Zeit kamen Scharen von Eingeborenen herbei, wunderlich anzusehen mit ihren behaarten Pelzröcken und Schlitten, die aus Eisstücken gezimmert waren. Felle in großen Haufen brachten sie mit, und die Schneehütten erhielten dadurch warme Teppiche. Die Felle dienten als Decken und Betten, wenn sich die Matrosen ihr Lager unter der Schneekuppel zurechtmachten, während es draußen fror, daß der Schnee knirschte, wie wir es auch in der strengsten Winterszeit nicht kennen lernen. Bei uns waren noch Herbsttage, daran dachten sie mitunter dort oben. Sie erinnerten sich der Sonnenstrahlen in der Heimat und des rotgelben Laubes, das an den Bäumen hing. Die Uhr zeigte, daß es Abend und Schlafenszeit war, und in einem von den Schneehütten streckten sich schon zwei zur Ruhe aus. Der Jüngere hatte seinen besten, reichsten Schatz von zuhause mit, den ihm die Großmutter vor der Abreise gegeben hatte. Es war die Bibel. Jede Nacht lag sie unter seinem Kopfe, er wußte seit seiner Kindheit, was darin stand; jeden Tag las er ein Stück und auf seinem Lager kam ihm oft tröstend der Gedanke an das heilige Wort: "Ginge ich auf Flügeln der Morgenröte und wäre am äußersten Meer, so würde doch Deine Hand mich führen und Deine Rechte mich halten!" Und unter diesen gläubigen Worten der Wahrheit schloß er seine Augen und der Schlaf kam mit seinen Träumen, des Geistes Offenbarungen in Gott. Die Seele blieb lebendig auch unter der Ruhe des Körpers; er vernahm es wie Melodien von altbekannten, lieben Liedern; es wehte so mild, so sommerwarm, und von seinem Lager sah er es über sich leuchten, als würde die Schneekuppel von außen her durchstrahlt; er hob sein Haupt, das strahlende Weiße war nicht die Wand oder die Decke, es waren die großen Schwingen an eines Engels Schultern, und er blickte empor in sein milde leuchtendes Antlitz. Aus der Bibel Blätter, wie aus dem Kelch einer Lilie, erhob sich der Engel, er breitete seine Arme weit aus und die Wände der Schneehütte versanken ringsum wie ein luftiger Nebelschleier. Der Heimat grüne Felder und Hügel mit den rotbraunen Wäldern lagen rundum im stillen Sonnenglanzte eines herrlichen Herbsttages. Das Nest der Störche stand leer, aber noch hingen die Äpfel an dem wilden Apfelbaum, ob auch die Blätter längst gefallen waren. Die roten Hagebutten leuchteten, und der Star flötete in dem kleinen grünen Bauer über dem Fenster des Bauernhauses, wo das Heim seiner Heimat war. Der Star flötete, wie er es gelernt hatte, und die Großmutter hing Vogelmiere in den Käfig, wie es der Enkel immer getan hatte. Und die Tochter des Schmieds stand so jung und schön am Brunnen und zog das Wasser herauf, sie nickte der Großmutter zu, und die Großmutter winkte und zeigte einen Brief von weit, weit her. Heute Morgen war er aus den kalten Ländern gekommen, hoch oben vom Nordpole her, wo der Enkel war - in Gottes Hand. Und sie lachten und weinten, und er, der unter Eis und Schnee in der Welt des Geistes unter den Schwingen des Engels alles dies sah und hörte, lachte und weinte mit ihnen. Und aus dem Brief selbst wurden laut die Bibelworte vorgelesen:
"Am äußersten Meer würde doch Deine Hand mich führen und Deine Rechte mich halten!" - Wie herrlicher Orgelklang ertönte es ringsum und der Engel senkte seine Schwingen wie einen Schleier um den Schlafenden. Der Traum war zuende - es war dunkel in der Schneehütte, aber die Bibel lag unter seinem Haupte, und Glaube und Hoffnung lagen in seinem Herzen; Gott und die Heimat waren mit ihm - "am äußersten Meere!"

Hans Christian Andersen

Armut und Demut führen zum Himmel

Es war einmal ein Königssohn, der ging hinaus in das Feld und war nachdenklich und traurig. Er sah den Himmel an, der war so schön rein und blau, da seufzte er und sprach »wie wohl muß einem erst da oben im Himmel sein!« Da erblickte er einen armen greisen Mann, der des Weges daherkam, redete ihn an und fragte »wie kann ich wohl in den Himmel kommen?«. Der Mann antwortete »durch Armut und Demut. Leg an meine zerrissenen Kleider, wandere sieben Jahre in der Welt und lerne ihr Elend kennen: nimm kein Geld, sondern wenn du hungerst, bitt mitleidige Herzen um ein Stückchen Brot, so wirst du dich dem Himmel nähern«. Da zog der Königssohn seinen prächtigen Rock aus und hing dafür das Bettlergewand um, ging hinaus in die weite Welt und duldete groß Elend. Er nahm nichts als ein wenig Essen, sprach nichts, sondern betete zu dem Herrn, daß er ihn einmal in seinen Himmel aufnehmen wollte. Als die sieben Jahre herum waren, da kam er wieder an seines Vaters Schloß, aber niemand erkannte ihn. Er sprach zu den Dienern »geht und sage meinen Eltern, daß ich wiedergekommen bin«. Aber die Diener glaubten es nicht, lachten und ließen ihn stehen. Da sprach er »geht und sagts meinen Brüdern, daß sie herabkommen, ich möchte sie so gerne wiedersehen«. Sie wollten auch nicht, bis endlich einer von ihnen hinging und es den Königskindern sagte, aber diese glaubten es nicht und bekümmerten sich nicht darum. Da schrieb er einen Brief an seine Mutter und beschrieb ihr darin all sein Elend, aber er sagte nicht, daß er ihr Sohn wäre. Da ließ ihm die Königin aus Mitleid einen Platz unter der Treppe anweisen und ihm täglich durch zwei Diener Essen bringen.
Aber der eine war bös und sprach »was soll dem Bettler das gute Essen!«, behielts für sich oder gabs den Hunden und brachte dem Schwachen, Abgezehrten nur Wasser; doch der andere war ehrlich und brachte ihm, was er für ihn bekam. Es war wenig, doch konnte er davon eine Zeitlang leben; dabei war er ganz geduldig, bis er immer schwächer ward. Als aber seine Krankheit zunahm, da begehrte er das heilige Abendmahl zu empfangen. Wie es nun unter der halben Messe ist, fangen von selbst alle Glocken in der Stadt und in der Gegend an zu läuten. Der Geistliche geht nach der Messe zu dem armen Mann unter der Treppe, so liegt er da tot, in der einen Hand eine Rose, in der anderen eine Lilie, und neben ihm ein Papier, darauf steht seine Geschichte auf geschrieben. Als er begraben war, wuchs auf der einen Seite des Grabes eine Rose, auf der anderen eine Lilie heraus.

Gebrüder Grimm


    

 

 

 



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