das Schneiderlein und ...

 

... und die 12 Rothöschen

(von Johann J. Rudolph) 

Es war einmal ein Schneiderlein, das den ganzen lieben langen Tag auf dem Tisch seiner Werkstatt saß und fleißig nähte. Zu dem kam einst ein Mann, der über dem Arm ein rotes Tuch trug.


 »Meisterlein, könnt Ihr mir nicht aus diesem Stück ein Paar Hosen machen?« fragte er.  »0 ja«, antwortete das Schneiderlein und maß das Stück am Arm aus. »Vielleicht gäbe es auch zwei Paare?«  meinte der Mann. Das Schneiderlein nickte, lächelte und sagte: »Das wäre schon möglich.« Da dachte der Mann: »Was ist das für ein Spitzbube! Hätte ich es bei einem Paar gelassen, so hätte das Schneiderlein den Rest für sich behalten!« »Vielleicht gibt es gar drei Paare ?« fragte er daher nach längerem Nach­denken, und das Sehneiderlein sagte: »0 ja!« und lächelte schelmisch. Da fuhr der Mann fort mit ihm zu handeln, bis sich das Schneiderlein endlich erbot, aus dem Stück ein Dutzend anzufertigen. »Bis morgen könnt Ihr sie haben«, sagte es, und der Mann ging zu­frieden wieder fort.

Als das Schneiderlein allein war, fuhr es mit der Schere in das Tuch und schnitt und schnitt, bis die zwölf Höslein in Stücken dalagen. Dann setzte es sich hin und nähte Tag und Nacht, bis es mit seiner Arbeit fertig war. Als es das letzte Paar an den Nagel gehängt hatte, aß es mit Wohlbehagen ein Butterbrot und sagte mit sichtbarer Befriedigung: »Nach getaner Arbeit ist wirklich gut ruhen. Der Fremde wird sich über meine Geschicklichkeit wundern.«

Dieser kam am nächsten Tag, wie er gesagt hatte, und fragte nach seinen zwölf Paar Hosen. »Da sind sie«, sagte das Schneiderlein und hob sie mit seiner Elle herunter. »Es ist ein Stück schöner als das andere geworden!« Die zwölf Höschen waren aber so klein ausgefallen, daß das Schneiderlein zwei Finger einer Hand durch die Beine stecken konnte. Dies ge­nügte, um sie hochzuheben und ihren Schnitt sehen zu lassen. »Seid Ihr mit meiner Arbeit zufrieden ?« fragte es. »Ihr seid ein Schelm, Meister, aber ein Schelm, wie ich ihn brauche!« antwortete der Fremde. »Kommt mit mir, Ihr sollt es gut bei mir haben!« Das Schneiderlein ließ sich dies nicht zweimal sagen, holte seinen Sonntagsrock und seinen Hut, vergaß auch nicht den Knüppelstock, der hinter dem Ofen lehnte, band seine wenigen Habseligkeiten in ein Sacktuch und steckte zum Schluß noch Nadel, Fingerhut und Schere zu sich. Auf der Spitze seines Hutes aber befestigte es einen Knäuel Zwirn, damit jeder sehen könne, daß es ein Schneider sei.

So zogen die beiden miteinander los und kamen gegen Abend in den Wald, in dem der Fremde wohnt. Da standen zwei Häuser: das eine stattlich groß, das andere winzig klein. An dem kleinen Haus aber waren Tür und Fenster genau so angebracht wie an dem großen, und wie der Storch auf dem großen sein Nest errichtet hatte, so hatte sich auf dem kleinen ein Zaunkönig niedergelassen und zwitscherte, wenn Meister Langhein sein gewohntes Lied klapperte.

»Wer wohnt denn in dem Häuschen ?« fragte das Schneiderlein. »Da wohnen meine Kinder!« antwortete der Mann. »Eure Kinder« verwunderte sich das Schneiderlein und machte große Augen. »Der Himmel steh mir bei! Da müßte ich ja meinen Kopf zum Schornstein herausstrecken, wenn ich darinnen wäre, und ich bin keiner von den Größten.« »So ist es aber«, sagte der Fremde und klatschte in die Hände, worauf zwölf Männlein aus dem Häuschen herausspazierten, die nicht größer als eine Faust waren. »Hier habe ich euch etwas mitgebracht!« rief er ihnen zu. »Das habt ihr eurem Oheim zu verdanken, der vor euch steht.« Dabei zeigte er auf das Schneiderlein. »Kommt her und küßt ihm zum Dank die Hand!« Das Schneiderlein wußte nicht, was es sagen oder tun sollte. Schließ­lich reichte es aber doch den Männlein die Hand.

»Kommt her, meine lieben Neffen, und seid mir herzlichst gegrüßt!« Da kam einer nach dem anderen herbei, und sie hatten große Mühe, erst seine Hand umzudrehen bevor sie sie küssen konnt, denn er hatte ihnen aus Ver­sehen die innere Fläche ent­gegengehalten. Anfangs wa­ren sie alle ein wenig verlegen, bald aber hatten sie Freundschaft geschlossen, denn das Schneiderlein war gut und freundlich zu seinen so überraschend gewonnenen neuen Neffen. Sie gin­gen miteinander in das große Haus und setzten sich zum Essen nieder.

Die zwölf Rothöslein aßen an einem eigenen Tischlein und banden sorgfältig eine Serviette vor, um ihre neuen Höslein nicht zu beschmutzen. Der Tisch war zierlich gedeckt, jedes hatte einen Teller und einen Löffel vor sich, doch niemand kam, um ihnen eine Speise zu bringen.

 

Dem Schneiderlein wurde es ganz unheimlich im Magen, es saß und wartete, aber nichts geschah. Die Männlein aber aßen so eifrig von ihren leeren Tellern, daß das Schneiderlein nicht wußte, was dies bedeuten sollte. »Ei, so eßt doch auch, lieber Oheim!« sagte eines der Rothöschen. »Tut nicht so fremd! Denkt, ihr seid jetzt ganz bei uns zu Hause!« »Ich würde ja essen«, antwortete das Schneiderlein, »aber das wäre eine Kunst! Denn wo nichts ist, kann man nichts wegnehmen. Gebt mir nur erst etwas!«

»Ach so«, sagte der Vater der Rothöschen. »Ich habe ganz ver­gessen, Euch mit unserer Gepflogenheit bekannt zu machen. Wir leben nur von Luft und Sonnenstrahlen. Das ist ein ganz vortreffliches Gericht, das den Körper immer gesund hält. Daher kommt es, daß wir nie etwas von einer Krankheit spüren. Wir kennen weder Kopf- noch Zahnweh, weder Brustschmerzen noch Bauchgrimmen. So habe ich gelebt, und so ziehe ich auch meine Kinder groß.«

» Ja, man sieht es, wie gut es bei ihnen anschlägt«, meinte das Schnei­derlein. »Aber, aufrichtig gesagt, werter Herr, nehmt es mir nicht übel, diese Lebensart scheint mir doch ein wenig mager zu sein, und ich glaube, daß schon eine ordentliche Portion Sonnenstrahlen dazu gehört, um satt zu werden. Ich bin zwar nicht gegen Eure Kost voreingenommen, aber eine Schüssel Sauerkraut wäre mir lieber!«

»Das versteht Ihr nicht!« sagte der Alte. »Wer sich einmal an unsere Lebensart gewöhnt hat, der vertauscht sie um alles in der Welt nicht mehr mit einer anderen. Probiert es nur einmal!« Als das Schneiderlein sah, daß alle seine Einwände nichts nützten, fügte es sich seufzend und aß wie die anderen Sonnenstrahlen vom leeren Teller, wischte sich dann mit seiner Serviette den Mund ab und sagte schließlich, um seine neuen Verwandten nicht zu betrüben: »Ihr habt recht, meine Lieben! Sonnenstrahlen sind ein köstliches Gericht. Dabei schnürte es seinen Gürtel um ein Loch fester zusammen, plauderte mit den Männlein und vergaß darüber seinen nagenden Hunger.

Am Abend war der Tisch gar nicht gedeckt, und das Schneiderlein sah auch diese Hoffnung schwinden, etwas in seinen hungrigen Magen zu bekommen; es hatte nämlich gedacht, daß sie am Abend, wenn die Sonne nicht mehr scheine, auch keine Sonnenstrahlen essen könnten. Die Männlein stellten sich aber statt dessen ans Fenster, sahen den Mond eine Zeitlang mit weit offenem Mund an und versäumten nicht, das Schneiderlein einzuladen, dasselbe zu tun. »Wir haben des Abends immer kalte Küche«, erklärten sie ihm, »das ist der Gesundheit sehr zuträglich; warme Speisen hindern die Verdauung, doch auf einige mundvoll Mondschein schläft sich‘s ganz vortrefflich!« »Ihr habt ganz recht, meine Lieben«, sagte das Schneiderlein und tat, als ob es begierig den Mondschein einschlürfe. Dabei zog es heimlich seinen Gürtel wieder um ein Loch zusammen und dachte: »0 säße ich doch daheim in meinem Häuschen! Da stünde ein Topf voll Kartoffeln auf dem Feuer. Die würden mir herrlich munden! Doch hier ist es ja nicht zum Aushalten!«

Es schwieg aber still und sagte schließlich nur, es wolle jetzt schlafen gehen, es sei ein wenig müde geworden. »Wir gehen gleich mit Euch«, meinte der Alte und führte das Schnei­derlein und die zwölf Rothöschen in ein großes Zimmer, in dem weder Bett, noch Stuhl, noch Tisch stand. »Ihr werdet wahrscheinlich auch nicht wissen, wie man hier schläft«, sagte der Alte. »Seht, wir machen es so!« Mit diesen Worten stellte er sich neben die zwölf Rothöschen an die Wand und zog ein Bein in die Höhe, so daß er nur mehr auf einem stand. Dann faßte er den Ellen­bogen des rechten Armes mit der linken Hand, den Zeigefinger der rechten Hand aber legte er auf die Spitze seiner Nase, machte die Augen zu und tat, als ob er schliefe. »Seht!« sagte er zum Schneiderlein. »So schlafen wir, und ich rate Euch, es ebenso zu machen ! »Ländlich, sittlich«, meinte das Schneiderlein und tat, was man ihm gesagt hatte. Lange hielt es aber diese Stellung nicht aus. Bald über­wältigte es der Schlaf so sehr, daß es auf den Boden sank und vor Müdig­keit auf den harten Brettern so gut wie im weichsten Bett schlief.

Es wachte erst auf, als die Sonne durch das Fenster schien und der Storch sein Morgenlied klapperte. Da rieb es sich die Augen und schaute um sich. Die Rothöschen waren mit ihrem Vater verschwunden. Schnell raffte es seine Habseligkeiten zusammen, nahm seinen Knüppelstock und verließ das Haus. Vor der Tür aber stand der Alte mit seinen Söh­nen und frühstückte mit ihnen Sonnenstrahlen. »Wollt Ihr nicht auch eine Tasse trinken?« fragte der Alte. »Ich danke!« erwiderte das Schneiderlein und zog seinen Gürtel wiederum enger zusammen. »Ich bin noch ganz satt von gestern abend, wenn Ihr aber erlaubt, so will ich nun meine Reise weiter fort­setzen.« »Wie? Ihr wollt uns schon wieder verlassen?« riefen die Rothöschen. »Ihr seid eben erst gekommen! Bleibt doch noch eine Zeitlang hier!«

»Meine Kunden könnten indessen einen anderen Meister finden«, er­klärte das Schneiderlein, »wenn ich so lange ausbleibe. Ich möchte doch wieder einmal zu Hause nach dem Rechten sehen.« »Dann lebt recht wohl und laßt es Euch gut gehen!« wünschten die Rothöschen. »Lebt wohl, meine lieben Neffen, und besucht mich einmal«. Damit empfahl sich das Schneiderlein und ging, ein Liedchen vor sich hin pfeifend und den Knüppelstock durch die Luft wirbelnd, tiefer in den Wald hinein. Es wußte zwar nicht, wohin es sich wenden sollte, aber es wollte lieber an jedem anderen Ort sein, als bei diesen Sonnenschein­essern.

Und es wanderte den ganzen Vormittag hindurch, ohne ein einziges Mal auszuruhen. Schließlich setzte es sich, müde und matt geworden, unter eine alte, große Eiche und seufzte kläglich: »Wenn ich doch nur ein Stückchen Brot hätte!« Dabei suchte es alle Taschen ab, doch vergeblich. Es fand sich kein einziges Stücklein Brot darin. Als es aber hungrig vor sich hin blickte, sah es plötzlich auf dem Boden einen Laib Brot liegen, so schön, wie das Schneiderlein in seinem Leben noch keinen gesehen hatte.

»Ei, wie geht denn das zu?« rief es aus. »Woher kommt denn nur auf einmal das Brot? Es war doch nicht da, als ich hierherkam, und gebracht hat es mir auch niemand. Aber was tut‘s? Ich habe seit gestern manches gesehen, was ich für ein Märchen hielte, wenn es mir ein anderer erzählte. Ich will nicht mehr fragen, woher es kam, sondern es mir einfach schmecken lassen !« Damit zog es sein Messer heraus, schnitt ein tüchtiges Stück ab und begann mit vollen Backen zu kauen. »Das schmeckt doch ganz anders als Sonnenstrahlen! Wenn ich jetzt noch ein Stück Schinken als Zugabe hätte, wahrhaftig, ich wäre der glück­lichste Mensch unter der Sonne!«

Wie es das sagte, hörte es ein Geräusch hinter sich und wandte sich um. Es war aber nur ein Blatt von einem Baum gefallen. Als es jedoch wieder vor sich hin sah, da lag ein großes Kohlblatt auf dem Gras und darauf ein prächtiger Schinken, eine schöne, große Wurst und einige Semmeln.

 

»Gesegnet sei die unsichtbare Hand, die mich so herrlich bedient!« rief das Schneiderlein. »Seit meiner Eltern goldener Hochzeit habe ich nicht mehr so prächtig gelebt. Jetzt noch einen Schluck Wein, und ich tauschte mit keinem König der Welt!«

Das Schneiderlein hatte kaum ausgesprochen, da fühlte es seine linke Rocktasche schwer werden. Schnell griff es hinein und zog eine Flasche Wein hervor. »Jetzt bin ich zufrieden!« rief es in höchstem Entzücken, sprang auf und tanzte mit der Flasche im Kreise umher. Lachend ließ es sich wieder auf den Boden fallen, zog den Stöpsel aus dem Flaschenhals und tat einen tüchtigen Schluck. »Ach, ist das köstlich !« seufzte es selig. »So einen Wein hat nicht einmal unser gnädiger Herr im Dorf. Jetzt kommt mir noch einmal, ihr Sonnen­scheinesser und Mondscheintrinker! Hier geht es anders zu als bei euch!


»Hahahaha, du kleiner Narr!« rief eine Stimme hinter dem Gebüsch, und der Sonnenscheinesser trat mit seinen zwölf Rothöschen hervor. Dem Schneiderlein fiel vor Schreck die Weinflasche aus der Hand. »Seid mir willkommen!« stammelte es und verzog das erblaßte Gesicht so freundlich, als es gerade vermochte. »Wollt ihr nicht Platz nehmen, meine lieben Neffen? Es tut mir leid, daß ich euch von meiner Mahlzeit nichts anbieten kann, da ihr diese Speisen nicht gewohnt seid. Geht aber nur geradeaus weiter, dann kommt ihr bald aus dem Wald hinaus und könnte nach Herzenslust auf freiem Feld Sonnenstrahlen schmausen.«

So hoffte das Schneiderlein, sie loszuwerden. Aber der Alte nahm ihn beiseite und sagte: »Meister, laßt Euch nicht bange werden! Ich habe schon manchen Fremden beherbergt; alle jedoch wurden grob, wenn ich sie bat, mit mir zu essen. Nur Ihr seid höflich geblieben und habt Euren Hunger unterdrückt. Ihr sollt dafür haben, was ihr begehrt!« »Wertester Gönner!« erwiderte das Schneiderlein. »Vor allem bitte ich, mir etwas kräftigere Speisen zu geben, als ihr überirdischen Personen zu genießen pflegt. Ich würde zum Beispiel täglich mit solch einer Mahlzeit, wie ich sie heute gehabt habe, zufrieden sein.« »Das sollt Ihr haben!« sagte der Alte, »Denn was Ihr eben gegessen habt, das kam ja auch von mir. Ich verstehe mich ein wenig darauf, etwas herheizuzaubern, wenn es nötig ist.« »Nun, wenn das so ist«, entgegnete das Schneiderlein vergnügt, »dann bin ich zufrieden. Was soll ich aber bei Euch zu tun haben ?« »Ihr sollt meine Söhne Euer Handwerk lehren«, erwiderte der Alte. »Ich habe immer sagen hören, Handwerk habe einen goldenen Boden; das sollen meine Söhne lernen!«

»Mir soll es recht sein«, meinte das Schneiderlein, »Ich will gerne Eure Söhne unterrichten und alles tun, damit Ihr noch Freude an ihnen haben könnt.« Und es packte sein Bündel wieder zusammen, nahm seinen Stock und wanderte mit dem Alten zurück. Sie waren aber noch gar nicht weit gegangen, da sahen sie schon die zwei Häuser vor sich, von denen der Schneider an diesem Morgen ausgezogen war. In seiner Eile hatte er gar nicht darauf geachtet, daß er in einem großen Kreis herumgelaufen war.

Der Alte führte ihn in das Haus und wies ihm ein hübsches Zimmer an, in dem ein Tisch und ein gutes Federbett standen. Für die Söhne aber war ein besonderes Tischchen mit zwölf kleinen Stühlen aufgestellt. Das Schneiderlein begann sofort mit seiner Lehrtätigkeit, und die Rothöschen machten so schnelle Fortschritte, daß nach wenigen Monaten schon drei von ihnen auf die Wanderschaft gehen konnten.

 

Als sie Abschied nahmen, steckte der Vater einem jeden einen Ring an den Finger; dann ließ er sie ziehen. Als zwölf Monate vergangen waren, waren auch die letzten drei Rothöschen als ausgelernte Schneider in die weite Welt gegangen. Am Abend saß der Alte dem Schneiderlein in dem nun still gewordenen Haus gegenüber.

»Meister, ich bin Euch unendlichen Dank für das gute Werk schuldig, das Ihr an meinen Söhnen getan habt. Ich weiß gar nicht, wie ich es Euch vergelten soll. Geld habe ich keines und halte es auch nicht für würdig, damit so große Dienste zu belohnen. Ich will Euch aber hier ein kleines Pfeifchen gehen; es hat zwei merkwürdige Eigenschaften, die Euch von Nutzen sein können. Blast Ihr zu dem einen Ende hinein, so wird alles, was Ihr nicht haben wollt, vor Euch fliehen. Pfeift Ihr jedoch auf dem anderen Ende, so wird das, was Ihr haben wollt, zu Euch kommen.« »Ich danke Euch«, sagte das Schneiderlein. »Das ist wirklich ein schönes Geschenk. Ich werde es gut gebrauchen können. So leer auch daheim mein Häuschen ist, Mäuse und Ungeziefer sind immer bei mir zu Gast. Nun kann ich sie auf  leichte Art loswerden.

Er schnallte sein Ränzlein um, nahm Abschied und machte sich, nach­dem ihm der Alte den besten Weg gezeigt hatte, auf in die Heimat. Ohne Zwischenfälle kam es nach Hause und fand seine Wohnung, wie es sie verlassen hatte. Nachdem das Schneiderlein von den mit­gebrachten Lebensmitteln eine gute Abendmahlzeit gehalten hatte, legte es sich nieder. Am anderen Morgen jedoch saß es schon wie eh und je vor seiner Tür und arbeitete so eifrig, daß es eine Lust war, ihm zuzu­sehen.

Als die Nachbarn und Freunde von seiner Ankunft hörten, kamen sie von allen Seiten herhei, um es zu besuchen, und brachten ihm Arbeit. Doch Meister Schneiderlein konnte sich nicht mehr recht an die Heimat gewöhnen. Es war nun schon einmal draußen in der Welt gewesen und hatte Sehnsucht, noch mehr zu sehen und zu erleben. Und diese Sehnsucht wurde eines Tages so stark in ihm, daß es wieder sein Ränzel umschnallte, den Knüppelstock hervorholte, die Haustür zuschloß und frohen Mutes in die Welt hinaus wanderte. An Lebens­unterhalt konnte es ihm ja nicht fehlen. Denn wenn es Hunger verspürte, brauchte es nur auf seinem Pfeifchen zu blasen und sogleich kamen Feldhühner oder Krammetsvögel herbeigeflogen, die sich fangen lie­ßen und an einem Feuerchen knusprig gebraten wurden. So lebte das Männlein in Überfluß und Freude.

Am dritten Tag seiner Wanderschaft gelangte es in einen Wald, in dem Räuber hausten. Als sie das Schneiderlein anfielen, pfiff es nur auf seinem Pfeifchen, und die Räuber rannten Hals über Kopf davon.

Eines Tages aber hatte sich das Schneiderlein am Fuß eines Berges gelagert und unter einer alten Eiche sein Mittagsschläfchen gehalten. Als es dann weiter wanderte, ließ es unglücklicherweise sein Pfeifchen liegen. Das Schneiderlein merkte es gar nicht, sondern stieg munter den Berg hinan, bis es auf der Höhe stand. Dort wohnte ein roher, wilder Riese, der alle Fremden, die sich hierher verirrten, in ein tiefes Loch im Berg zu werfen pflegte, aus dem niemand mehr herauszufinden vermochte. Er saß ständig vor seiner Tür und kämmte dabei seinen langen Bart. Neben ihm aber lag ein weißer Stab, an dem ein Gemshorn befestigt war. Der Stab hatte die Ei­genschaft, daß er länger und kürzer werden konnte. Kam nun ein Frem­der in seine Nähe, so streckte er den Stab nach ihm aus und zog ihn am Kra­gen heran. So erging es auch dem armen Schneiderlein. Kaum hatte der Grauhart es erblickt, da wuchs der Stab zu einer langen Stange und packte es am Nacken. Schnell griff das Schneiderlein nach seinem Pfeifchen, aber vergebens. Es durchwühlte alle Säcke, jedoch das Pfeifchen war nicht zu finden. Und als das Männlein eben die letzte Tasche umwendete, hatte es der Alte auch schon zu sich herangezogen.

 


 »Was bist du für ein sonderbarer Geselle ?« redete er es in barschem Ton an. »Ich bin ein Schneider von Beruf«, sagte das Männlein, »und stehe Euch mit meiner Geschicklichkeit zu Diensten. »So, so«, sagte der Alte, »ein Schneider? Solche Leute kann ich brauchen. Ich habe da einen Sack, in dem ich meine Hirse aufbewahren will. Er ist vor Alter schon ein bißchen durchlöchert; den kannst du mir flicken. Hüte dich aber, daß du kein Loch übersiehst! Wenn nur ein einziges Körnlein durchfällt, bist du verloren!«

Dem Schneiderlein wurde angst und bange, aber es ließ sich‘s nicht anmerken, sondern sagte mit fester Stimme: »Gebt ihn nur her, ich werde gleich damit fertig sein!« Der Graubart reichte ihm einen alten, zerlumpten Sack, der viele hundert Löcher hatte. Das Schneiderlein ließ sich aber dadurch nicht abschrecken, sondern fing zu nähen an, wendete den Sack nach rechts und wendete ihn nach links und holte mit der Nadel so weit aus, daß sich der Riese über seine Geschicklichkeit gewaltig wunderte. Endlich glaubte es fertig zu sein und besah den Sack genau von allen Seiten. Es konnte nirgends mehr ein Loch entdecken.

»Die Arbeit wäre getan«, meinte es, »jetzt gebt mir meinen Lohn!« Da schöpfte der Alte von einem Haufen Hirse, der neben ihm lag, eine Handvoll in den Sack und hielt ihn in die Höhe. Und zu des Schnei­derleins Schrecken lief die Hirse heraus auf die Erde. »Komm, ich will dir den versprochenen Lohn geben!« schrie der Riese. »Da unten sollst du Arbeit finden!« Mit diesen Worten packte er das Schneiderlein, steckte es in den Sack und warf es in das Loch hinab.

Es dauerte lange Zeit, bis das Schneiderlein seine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Das erste, was es tat, war, daß es seine große Schere herauszog und ein Loch in den Sack schnitt. Dann schlüpfte es heraus und sah sich um. Es befand sich in einer weiten Höhle, in der viele Tote lagen, die der Alte im Laufe der Jahre herabgeworfen hatte. Das Schneiderlein zitterte vor Angst, wie es da wieder herauskommen sollte; nirgends war ein Ausweg zu finden. Außerdem war es schon ganz dunkel geworden. Das Licht von oben reichte kaum mehr, die nächste Umgebung zu unterscheiden.

Wie das Schneiderlein so voll Verzweiflung dasaß, sah es plötzlich einen Fuchs. Da durchzuckte es ein Hoffnungsstrahl. Wo man herein­kommen kann, kann man auch hinaus, dachte es. Es schlich leise hinter den Fuchs, packte ihn dann fest beim Schwanz, und dieser lief voll Schreck mit ihm in einen engen Gang, der in einem Loch endete, das wohl für den Fuchs, aber nicht für das Schneiderlein groß genug war, um hindurchschlüpfen zu können. Allein, das Schneiderlein wußte sich zu helfen, indem es mit seiner Schere nach rechts und nach links schürfte und sich so durch den Berg hinausarbeitete. Welches Glück war das, daß es gerade da herauskam, wo es am Mittag sein Schläfchen gehalten hatte. Es suchte gleich nach seinem Pfeifchen, fand es auch schließlich im hohen Gras und verwahrte es diesmal sorgfältig, bevor es weiterzog.

Das Schneiderlein war aber noch nicht lange gewandert, als es auf der Straße Staub wirbeln sah, ohne erkennen zu können, woher dies rühre. Als es näherkam, sah es, daß es zwölf kleine Bürschlein waren, alle mit roten Höschen, die keck einherschritten und eine große Staub­wolke vor sich her trieben.

»Ei, seid uns gegrüßt, wertester Oheim!« riefen sie voll Freude, als sie ihn erkannten. »Woher kommt Ihr denn? Das Schneiderlein schlug die Hände vor Staunen zusammen, als es seine Neffen, die zwölf Rothöschen, vor sich sah. Es begrüßte sie herz­lich und lud sie ein, sich mit ihm an ein Feuer zu setzen und zu erzählen, was sie alle in der weiten Welt erlebt hätten. Viele Stunden vergingen darüber. Als der Abend hereinbrach, stellte sich jedes der Rothöschen auf ein Bein, das Schneiderlein aber schob sein Ränzel unter den Kopf, und so schliefen sie alle fest und traumlos bis zum frühen Morgen. Als sie wieder alle wach unter einem Baume saßen, sagte das Schneider­lein: »Meine lieben Neffen, ich will euch einen Vorschlag machen: Wir wollen von nun an miteinander reisen und Freud und Leid miteinander teilen!«

Die Rothöschen waren damit gern einverstanden, und so machten sie sich zusammen auf den Weg in eine große Stadt, die nicht mehr weit lag. Um aber nicht für dreizehn Personen Mahl zahlen zu müssen, erklärte das Schneiderlein, es wolle die zwölf Rothöschen in seinen Ranzen stecken.

Es marschierte also mit seiner Last lustig darauflos und kam wenig später zu den Stadtmauern. Kaum war es aber durch das Tor gegangen, als es einen Mann zu seinem Nachbar sagen hörte: »Wenn ich doch nur einen Gehilfen hätte! Ich habe so viele Kleider zu machen, daß ich mir gar nicht zu helfen weiß.« Da drehte sich das Schneiderlein um und rief: »Wenn Ihr wollt, stehe ich Euch gern zu Diensten. Ihr wäret sicherlich mit mir zu­frieden, denn ich arbeite für dreizehn!« »Oho!« sagte der Mann. »Was ist denn das für ein Prahler? Für einen halben Mann, willst du wohl sagen?« »Gewiß nicht«, antwortete das Schneiderlein. »Macht nur einmal die Probe!«

Der Mann aber dachte: »Ein halber Arbeiter ist immerhin noch besser als gar keiner. Ich will es mit ihm versuchen.« Und er führte das Schneiderlein in sein Haus, setzte es auf einen großen Tisch und legte ihm seinen Rock zum Nähen vor. »Seid so gut«, sagte das Schneiderlein, »und gebt mir gleich noch zwölf andere, damit Ihr seht, daß ich nicht gelogen habe!«

Der Mann wußte nicht, was er dazu sagen sollte, schleppte ihm aber doch noch zwölf zugeschnittene Röcke herbei und ging dann weg. Meister Schneiderlein aber verschloß sorgsam die Tür, holte seine zwölf Rothöschen aus dem Ranzen und ermahnte sie: »Jetzt zeigt, was ihr könnt, und macht eurem Meister keine Schande! Da fingen die zwölf zu nähen an, daß es eine Lust war, und ruhten und rasteten nicht, bis alles fertig war. Als sie aber den letzten Rock an den Nagel gehängt hatten, liefen sie schnell zum Fenster, und jedes verschlang eine reichliche Portion Sonnenstrahlen, denn die Arbeit hatte großen Hunger gemacht. Der Schneider dagegen begnügte sich mit einem Butterbrot. Darauf steckte er die Rothöschen wieder in seinen Ranzen und rief den Meister herbei.

Als dieser in die Werkstatt trat und die dreizehn fertigen Röcke erblickte, konnte er sich vor Erstaunen kaum fassen. »Ach, du Herzensschneiderlein!« sagte er und fiel ihm um den Hals. »Du bist die schönste Perle in meiner Schneiderkrone. Bleib bei mir, du sollst es gut haben!« Meister Schneiderlein lächelte zufrieden und meinte: »Macht nur nicht so viel Wesens daraus; das ist mir eine Kleinigkeit. Ich kann noch ganz andere Dinge!« »Oh, ich bin mit diesen schon zufrieden«, erwiderte der Mann. »Jetzt laßt es Euch aber gut gehen. Ihr habt es redlich verdient!« Damit stellte er eine Flasche Wein auf den Tisch und trank mit ihm auf seine Gesundheit. Das Schneiderlein blieb bei dem Meister und arbeitete fortan zu dessen größter Zufriedenheit, so daß alle anderen Schneider der Stadt neidisch wurden.

Eines Tages brach ein Krieg aus, und der König, der in der Stadt wohnte, ließ alle Stadtväter zu sich kommen und befragte sie, wen er zum obersten Befehlshaber seiner Armee erwählen sollte. Sie nannten ihm den Namen eines vornehmen Mannes. Der König ließ ihn holen, umgürtete ihn mit einem silbernen Schwert und schnallte ihm silberne Sporen an die Stiefel. Dann ließ er ihn auf ein schönes Pferd steigen, begleitete ihn selbst vor die Stadt hinaus und stellte ihn an die Spitze des Heeres, das gegen den Feind zog. Am dritten Tage jedoch wurde das Heer geschlagen und mußte auf schmäh­liche Weise nach Hause fliehen. Der König ließ zur Strafe den Mann, den er zum obersten Befehlshaber ernannt hatte, in den Turm werfen, nachdem er ihm das silberne Schwert und die silbernen Sporen ab­genommen hatte.

Hier auf berief  er wieder die Stadträte und fragte sie noch einmal, wen er zum Oberbefehlshaber einsetzen sollte. Und die Stadträte nann­ten ihm den Namen eines noch viel vornehmeren Mannes. Der König ließ ihn holen, umgürtete ihn mit einem goldenen Schwert und schnallte ihm goldene Sporen an die Stiefel. Dann ließ er ihn auf ein prächtiges Pferd setzen und begleitete ihn selbst vor die Stadt hinaus, wo er ihn an die Spitze des Heeres setzte. Doch das Heer wurde auch diesmal geschlagen und kam in schimpflicher Flucht zurück.

Da war der König sehr erzürnt. Er nahm dem Kriegsobersten das goldene Schwert und die goldenen Sporen ab und warf ihn zu dem andern in den Turm. Die Stadträte aber jagte er bis auf einen aus der Stadt. Zu diesem sagte er: »Wenn du mir nicht binnen drei Tagen einen Kriegsobersten nennst, der meinem Heer den Sieg erringt, so lasse ich dich ins Feuer werfen!«

Da erschrak der Stadtrat sehr und schlug alle seine Bücher nach, aber er konnte keinen geeigneten Mann finden. Schon waren zwei Tage der Frist verstrichen, die ihm der König gesetzt hatte, da träumte ihm, daß in der Stadt ein Mann lebe, der so viel arbeite wie dreizehn andere. Dies muß der richtige Mann sein, dachte der Stadtrat und lief sogleich zum König, um ihm den Traum zu erzählen. Da ließ der König alle großen und starken Männer zu sich kommen, aber keiner von ihnen konnte mit gutem Gewissen behaupten, so viel wie dreizehn andere arbeiten zu können. Der König ließ daraufhin öffentlich ausrufen daß er demjenigen eine große Belohnung zugedacht habe, der dies vermöchte. Doch niemand wollte sich melden.

Der Herold, der den Aufruf zu verkünden hatte, kam eines Tages auch in jene Gegend der Stadt, wo das Schneiderlein arbeitete. Dessen Meister hörte die Bekanntmachung und sagte zu seiner Frau: »Schweig nur ja still und verrate niemandem, daß dieser Mann bei uns ist. Der König würde ihn uns sonst wegnehmen.« Die Frau versprach zu schweigen, als aber der Herold zum drittenmal in ihre Straße kam, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, denn der König hatte nun auch für den eine große Belohnung ausgesetzt, der angehen könne, wo der gesuchte Mann lebe. Sie stellte sich vor das Haustor und rief den Herold zu sich. »Wenn Ihr mir versprecht, zu jedermann zu schweigen, so will ich Euch angeben, wo der Mann zu finden ist.« Auf dieses Versprechen kam es dem Herold nicht an. Die Hauptsache war, daß er dem König die ersehnte Nachricht bringen konnte. »Er sitzt oben bei uns im Stübchen«, flüsterte die Frau, »und arbeitet tatsächlich jeden Tag so viel, wie kaum dreizehn andere fertigzubringen vermöchten. «

Der Herold lief, so schnell er nur konnte, zum König, um die Bot­schaft zu verkünden. Der König ließ daraufhin sofort den Meister rufen, bei dem das Schneiderlein arbeitete, und fragte ihn, ob er wirklich einen solchen Mann im Hause hätte. Der Schneider konnte es nicht leugnen. »So bring ihn mir auf der Stelle hierher!« befahl der König und vergaß nicht, ein prächtiges, goldgesticktes Kleid und ein Paar goldene Ohrringe für die Frau mitzuschicken.

So wurde der Schneider von seiner Arbeit fortgeholt, in eine herrliche Kutsche gesetzt und zum König gebracht. Als ihn dieser jedoch erblickte, brach er in ein so lautes Lachen aus, daß sein goldener Thron wackelte und ihm das königliche Zepter aus der Hand fiel.

»Das soll der berühmte Mann sein nun, den will ich ausstaffieren, wie es ihm geziemt!« Und er ließ ihm ein Paar rote Strümpfe und ein gelbes Röckchen anziehen, das am Kragen eine Krause von Goldpapier hatte. Auf den Kopf wurde ihm ein blauer Hut mit einer Hahnenfeder gesetzt und statt eines Degens eine große Nähnadel umgegürtet. Auch seine Stiefelchen erhielten spitze Nadeln an Stelle der Sporen, und das Schneiderlein, im guten Glauben, dies alles müsse so sein, besah sich zu­frieden in einem großen Spiegel und bekam von sich eine hohe Meinung.

Der König ließ nun ein kleines Pferd vorführen und setzte das Schnei­derlein darauf. Als er es aber vor das Tor geleiten wollte, zog das Schnei­derlein noch einmal die Zügel seines Pferdchens an. »Mein König, Ihr werdet mir zugute halten, wenn ich mir noch vorher eine Gnade ausbitte! Ich habe zwölf Neffen, die mit mir unbedingt in den Krieg ziehen müssen.« Da lachte der König so vergnügt wie vorher und sprach: »Ja, ja, laß sie nur kommen!«

Das Schneiderlein rief einen Herold herbei und ließ sich von diesem seinen Ranzen bringen. Als der Ranzen geöffnet wurde, sprangen die Rothöschen heraus und verneigten sich ehrerbietig vor dem König. Der konnte sich vor Verwunderung kaum fassen. »Bringt mir geschwind noch zwei Pferde!« befahl er und setzte, als zwei Schimmel daherkamen, auf jedes sechs der Rothöschen. Ein Schimmel zu seiner Rechten, ein Schimmel zu seiner Linken, so zog das Schneiderlein aus dem Palast, und die ganze Stadt lachte, als sie den sonderbaren Kriegshelden sah. Der König geleitete ihn vor das Tor und kehrte dann wieder in sein Schloß zurück. Das Schneider­lein und seine zwölf Neffen aber zogen weiter und kamen am dritten Tag auf eine große Ebene, auf der viele Tausende von Feinden lagerten.

 

Das Schneiderlein, nicht faul, stellte sein Heer in einer großen Reihe auf, ritt es ganz ernsthaft wie ein richtiger General ab und sprach den Soldaten Mut zu. Er zweifelte keinen Augenblick an seinem Sieg. »Seht!« sagte es, »ich habe hier ein Pfeifchen, mit dem ich euch ein Zeichen geben werde, wann ihr den Feind angreifen sollt. Pfeife ich aber ein zweites Mal, so kommt alle wieder zu mir zurück!« Darauf ritt es mit seinen Rothöschen auf einen Hügel, und als der Trompeter zum Zeichen, daß sich das Heer sammeln sollte, blies, mußte sich das Schneiderlein fest am Sattelknopf anhalten, da es der starke Schall beinahe vom Pferd geworfen hätte.

Unterdessen war auch der Feind nicht müßig geblieben und hatte seine Schlachtreihe gebildet. In dichten Scharen rückten sie heran. Da zog das Schneiderlein sein Pfeifchen zum Munde und pfiff so laut es nur konnte, dreimal. Kaum hatten dies die Feinde gehört, da warfen sie voll Schreck die Waffen weg und flohen. Des Schneiderleins Soldaten aber verfolgten sie bis an einen Fluß und nahmen gefangen, was sich nicht in das Wasser gestürzt hatte. Da pfiff das Schneiderlein abermals, und als die Seinen zurückkamen, zog es an der Spitze der siegreichen Truppen nach Hause.

Der König hatte inzwischen in seinem Palast angestrengt nach­gedacht, wie er dem Schneiderlein bei seiner Rückkehr begegnen sollte; denn er hätte sich niemals vorgestellt, daß es der Mann sein könne, der ein feindliches Heer in die Flucht zu schlagen vermöchte. Bald wollte er es in den Turm werfen lassen, bald wieder hielt er es für lustiger, es noch abenteuerlicher anzukleiden und durch die Stadt zu treiben. Da verkündete ihm plötzlich der Turmwächter, daß das königliche Heer in guter Ordnung zurückkehre. Der König konnte es nicht glauben. Er wollte sich selbst davon überzeugen und ritt mit seinem ganzen Hof vor die Stadt hinaus. Er war aber noch nicht weit gekommen, als ihm ein großer Zug gefangener Feinde begegnete. Dahinter folgte das Schneiderlein mit gezogenem Degen, zu seiner Rechten und Linken die Rothöschen auf ihren Schim­meln.

Das Schneiderlein verneigte sich tief und sprach: »Es sollte mich freuen, mein König, wenn Ihr mit uns zufrieden wäret! Der König war sehr erstaunt über die Taten dieses seltsamen Generals. »Wie soll ich dich belohnen ?« fragte er. »Soll ich dich zum Statthalter einer meiner Provinzen machen? Soll ich dir einen Palast anweisen lassen? Bitte dir von mir aus, was du begehrst, ich werde es dir gewähren!« Das Schneiderlein verneigte sich abermals tief und sprach: »Gnädiger Herr, wenn ich Euch um eine Gnade bitten darf, so laßt mein Häuschen ein wenig größer bauen, damit ich mit meinen Neffen bequem darin leben kann !

»Das soll geschehen!« versprach der König und zog, das Schneiderlein zu seiner Linken, im Triumph in die Stadt ein. Das Schneiderlein aber blieb noch eine Zeitlang als Gast an des Königs Hof, geehrt und bewundert von der ganzen Stadt. Um ihn aber für immer gut in Erinnerung behalten zu können, ließ der König einen geschickten Maler rufen, der die ganze Begebenheit im Bilde festhalten mußte, wie das Schneiderlein mit seinen zwölf Rothöschen die Feinde in die Flucht geschlagen hatte.

Wenige Wochen später verabschiedete sich der kleine Held von seinem König und zog in die Heimat zurück. Als er in sein Dorf kam, fand er statt seines Häuschens einen großen Palast vor, der von einem prächtigen Garten umgeben war. Und in dem Garten war noch ein kleines Gärtchen, in dem dies Schneiders altes Häuschen stand, so wie es früher gewesen war. Er schloß es auf und fand noch alles, wie er es zurückgelassen hatte; sogar der Topf mit den Kartoffeln stand noch auf dem Herd.

Da beschloß er, fortan in Ruhe und stiller Zufriedenheit in seiner Heimat zu leben und sein Glück zu genießen. Damit er sich aber immer seines früheren Lebens erinnere, da er noch ein armes Meisterlein gewesen war, nahm er sich vor, jede Woche einen Tag in dem kleinen Häuschen zu wohnen und wie früher zu arbeiten. Die zwölf Rothöschen aber, blieben bei ihm und lebten mit ihm in Frieden und Eintracht bis an das Ende seiner Tage.

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