Miami

NICE

GLORIA ESTEFAN ist Miami.

Richtiger: der sonnige Teil von Floridas Metropole. Denn während für die weniger begüterten US-Latinos der Alltag eher aus Kokain und Knallereien besteht, hat das Ehepaar Estefan den Aufstieg in die unwirkliche Luxuswelt von "Star Island" geschafft. ME/Sounds ging auf den Traum-Trip in die Tropen.

Don Johnson, Traummann aus "Miami Vice", und der ehemalige Präsident von Nicaragua, Anastasio Somoza, begrüßen ihre neuen Nachbarn: Gloria und Emilio Estefan, Ehering-verbundenes Team hinter Miami Sound Machine, sind soeben eingezogen. Vorerst nur mit dem Nötigsten – sie haben ihre Warhols aufgehängt, den Fitness-Raum eingerichtet und die vollautomatischen High-Tech-Garderobenständer in ihrer großzügigen Villa im spanischen Kolonialstil installiert. Dafür können sie ab sofort ihr Briefpapier mit einer der begehrtesten Adressen Amerikas schmücken: Star Island, Miami, Florida.

Nicht daß ihre alte Adresse schäbig gewesen wäre. Das Haus war zwar ein bißchen bescheidener, aber dafür stand es in einer Straße, die nach Glorias exzellenter Latino-Pop-Band benannt worden ist: Miami Sound Machine Boulevard. Doch das Paar ist Ruhm gewöhnt, die Flut von Auszeichnungen, Plaketten und Preisen, mit denen sie unablässig überschüttet werden. Man verleiht ihnen Ehrenbürgerschaften, Florida feiert den Tag der Miami Sound Machine und Bürgermeister überreichen die Schlüssel der Stadt. Die Insignien des Erfolgs häufen sich dermaßen, daß die Estefans in ihrem neuen Heim extra einen Raum dafür reserviert haben. Ein wahr gewordener amerikanischer Traum – besser noch, ein lateinamerikanischer Traum.

1989 ist der wichtigste Wendepunkt in der vierzehnjährigen Geschichte der Miami Sound Machine (MSM) und der First Lady des Miami-Pop, Gloria Estefan. Obwohl ihre früheren (spanischen) Aufnahmen von der Latino-Gemeinde ausnahmslos zu Superhits erkoren wurden, begegneten auswärtige Latino-Musiker ihrer Saccharin-Version traditioneller kubanischer Musik zum Teil mit Naserümpfen. Doch der Erfolg dieser Karibik-Mischung ist ungebrochen: Letzten Monat erhielt ihre LP ANYTHING FOR YOUR in England zum dritten Mal Platin, und im Moment hat Madame Estefan den europäischen Markt fest im Griff.

Die Estefans haben sich heuer noch mehr vorgenommen: Ihr Traumhaus auf Star Island muß fertig eingerichtet werden, die Veröffentlichung des neuen Crossover-Albums CUTS BOTH WAYS steht an, die Band muß für die erste (bereits ausverkaufte) Europa-Tour proben und zu allem Streß kommt auch noch der Umzug von Glorias Firma in einen neuen, luxuriösen Büro-Komplex in der Bird Street, Estefan Enterprises Inc. ist eine reine Familienangelegenheiten – nach alter kubanischer Sitte werden nur Verwandte und enge Freunde beschäftigt. "Wir lassen unsere Leute eben nicht im Regen stehen," lächelt Emilio.

Als ich das Büro betrete, erregen sich Glorias Schwester und Cousine gerade über das Cover der neuen Millie-Jackson-LP (Millie sitzt mit angestrengtem Gesichtsausdruck und heruntergezogener Unterhose auf dem Klo) – hier sind alle streng katholisch! Gloria hüpft herein. "Meine Güüüte, kann nicht irgendwer dieser Dame klarmachen, daß sie es so nie zu etwas bringt?" Gloria selbst bietet allerdings auch keinen wesentlich solideren Anblick. Sie ist 32, aber zart gebaut wie eine Fünfzehnjährige, trägt türkisfarbene Cowboystiefel aus Schlangenleder mit silbernen Sporen, hautenge Jeans mit einer roten Rose auf der linken Hinterbacke und ein halboffenes weißes Hemd mit einem Spitzentop darunter.

Das Ehepaar Estefan arbeitet enger und harmonischer zusammen, als das bei den meisten anderen Schreibtisch-und-Bett-Unternehmen der Fall ist. Emilio, mittlerweile als Bandleader zurückgetreten, wirkt nun als Produzent und oberste Instanz bei sämtlichen geschäftlichen Transaktionen. Gloria, die Kreative, ist für die Songs verantwortlich und sorgt für Aktion auf der Bühne. Wenn es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt, dann war es wohl das, was über Emilio hereinbrach, als er die fünfzehnjährige Gloria in einem weißen Spitzenkleid in der Kirche singen sah. "Damals hatte keine Latino-Band eine Frau dabei," sagt Emilio, der die Sprüche der Paparazzi-Fotografen wie "los, verschwinde aus dem Bild" längst gewöhnt ist, aber dennoch gerne seine Version der Geschichte präsentiert. Er ist sanft und charmant, hat immer das gewisse Latino-Glitzern in den Augen. "Ich fragte sie, ob sie bei uns einsteigen wollte, und daraufhin schleppte sie ihre Mutter, ihre Großmutter und eien Haufen anderer Leute an, die uns auschecken sollten."

Emilio war 24, sie 17, als sie heirateten, und viele Jahre lang war Gloria nichts weiter als das Mädchen im Hintergrund, das, dicht an die Wand gepreßt, nervös die Maracas schüttelte. "Es war ziemlich schmerzhaft für mich, erwachsen zu werden," stimmt Gloria zu. "Am Anfang tat es mir regelrecht weh, mich selbst im Fernsehen anzuschauen, meine Verteidigungs-mechanismen zu beobachten." Heute glänzt sie mit einer Aerobic-ähnlichen Live-Performance, stolziert im provokativ engen schwarzen Lederhosen über die Bühne, beglückt das Publikum mit Samba-Einlagen und verströmt jene Art von Sex, die Madonna wie ein tiefgekühltes Fischfilet wirken läßt. Obwohl die Presse sie hartnäckig als "Neue Madonna" tituliert, ist außer einer gemeinsamen Vorliebe für Spitzen-BHs und hölzerne Kruzifixe an dem Vergleich nicht viel dran.

Zweifellos wurde in der Vorbereitungs-Phase für Glorias Attacke auf den Weltmarkt ihr Image gehörig aufgemöbelt. Gloria vor vier Jahren, die in gerahmten Zeitungsausschnitten und Titelbildern die Büroflure säumt – rundlich, kurze Haare, knielange Röcke – sah aus wie ihre eigene Mutter. Boshafte Zungen stellen Emilio als eine Mischung aus Dr. Frankenstein und Prof. Higgins dar, der die Kiefer seiner Frau zwecks Unterbindung der Nahrungszufuhr verdrahtete, sie in einer Schönheitsfarm internierte und für eine Generalüberholung auf dem Operationstisch eines Schönheitschirurgen festschnallen ließ. Gloria, die jeden zweiten Satz mit "um die Wahrheit zu sagen" anfängt, dementiert sofort und stellt klar, daß sie nur auf dem Gesundheitstrip ist und ohne ihr Trimmrad nirgendwo hinfährt.

"Gloria ist eine ziemlich kluge Person," sagt Emilio. "Sie macht, was sie will, ich zwinge sie nie zu etwas. Sie hat gerade zwischen fünf und sechs Millionen Dollar für einen Werbespot abgelehnt. Sie sagte zu mir, ‚Ich will eine bessere Sängerin werden, aber doch keine Werbung machen‘." Auf Filmangebote reagiert sie ebenso eisig; üblicherweise erwartet man von ihr eine zweite Sonia Braga oder eine Reinkarnation von Carmen Miranda.

Ohne Emilio, meint Gloria, hätte sie ihr Leben wohl hauptsächlich auf dem Sofa zugebracht. "Immer wenn ich sage, das kann ich nicht, sagt Emilio, doch, das kannst du," erklärt sie. "Gloria ist sehr scheu, sie hatte immer Angst, sie würde es nicht schaffen. Ich sagte zu ihr, das schlimmste, was man tun kann, ist, etwas nicht zu probieren", erinnert sich Emilio.

An der Spitze von Glorias persönlicher Hitliste stehen ihr Sohn Nayib und Emilio, aber danach folgt gleich Miami. Es gibt keinen leidenschaftlicheren Fan, kein besseres PR-Aushängeschild und kein strahlenderes Mittel gegen die düsteren Seiten Miamis. Das Estefan-Image scheint stark genug zu sein, es mit allem aufzunehmen, was dem Ruf der Stadt schaden könnte, sei es eine der 1,4 Millionen Dollar teuren "Miami Vice"-Episoden, Tony Montana in "Scarface", echte Drogenbarone, die ihr Leben auf einem Berg von Kokain aushauchen, blutige Rassenunruhen, Kubaner-Klans oder mumifizierte Küstenabschnitte, wo mehr als zwei Drittel der Bevölkerung über 70 sind. Präsident Reagan pries Miami Sound Machine als "ein prächtiges Beispiel für die neue humanitäre Gesinnung in Miami": jung, sauber, arbeitsam. "Eine große Ehre," freut sich Gloria. "Ich glaube, er meinte, daß wir ein gutes Beispiel für Hispano-Amerikaner sind. Alle Leute hier, Haitianer, Jamaikaner, Kubaner, Anglo-Amerikaner, können miteinander leben und vorwärtskommen. Das gefällt mir. Es ist Amerika, aber es ist zugleich ein echtes Zuhause."

So spricht der etablierte, in den USA reichgewordene Castro-Flüchtling. Die Realität an der sonnigen Ostküste sieht freilich anders aus: Im Rassismus-gebeutelten Miami liefern sich seit Jahren Latinos, Schwarze und Weiße heiße Schlachten. Letztes Jahr wurde Miami als am stärksten von AIDS betroffene Stadt in Amerika gebrandmarkt, und 1985 erklärte ein bekannter Pharmakologe, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Miami nicht nur irgendwann einmal indirekt oder direkt mit Drogengeld in Berührung gekommen sei, sondern auch mit Drogen selbst. "Das stimmt so nicht." Leicht verärgert wehrt sich Gloria für ihre Stadt: "Wenn du in die Stadt kommst, kannst du nicht einfach losziehen und dir was besorgen. Du mußt die Connections kennen. Sicher, irgendwo kriegst du schon was, aber diese Gegenden sind sehr gefährlich. Dasselbe gilt für Gewalt. In jeder großen Stadt trifft man auf Gewalt."

GLORIA ESTEFANS MIAMI

Abendliche Exkursionen sind nach dem Umzug ins neue Haus Mangelware geworden, doch wenn sie ausgeht, geht Gloria hierhin: Zum Essen in die CASA LARIO’S, dem "mit Abstand besten kubanischen Restaurant in der Stadt". Ansonsten steuert man mit dem Boot die Keys an, etwas zum Key Biscayne, "wo am Wochenende auch exzellente Reggae-Bands spielen". Zum Baden geht’s ans entlegene ELLIOT KEY, nachdem der frühere Lieblingsstrand an der 35. Straße inzwischen eher einem Teutonen-Grill ähnelt. Überhaupt ist die South Beach mit ihrem Art Deco Destrict, vor zehn Jahren noch unentdeckt, inzwischen Treffpunkt der Jeunesse doree geworden. Wer dort mitglänzen will, geht am besten ins STRAND, wo sich Modells und Künstler die Klinke in die Hand geben. Nicht über den Nachtbummel vergessen sollte man aber das, was Gloria am meisten an Miami schätzt: den Sonnenuntergang. "Glaub mir: Nirgends ist er schöner."

Die pastellfarbene Aufsteigerstadt weigert sich jedenfalls standhaft, als glitzernd-geschmackloses Drogenzentrum abgeschrieben zu werden, und ist erfolgreich bemüht, mit ihren Handicaps und dem rasanten Wachstum zurechtzukommen. Nirgendwo wird das deutlicher als am South Beach, wo heftig an den alten Art-Deco-Gebäuden renoviert wird, die in Miamis typischen Farben pistaziengrün, rosa und lila neu erstrahlen sollen. Dort haben auch die Estefans in Immobilien investiert, in einem Gebiet, das ursprünglich der letzte sonnige Zufluchtsort für nicht ganz so gut betuchte ältliche Amerikaner war, später zur Deponie für Drogenabhängige und Einwanderer herunterkam und heute trendgemäßer Tummelplatz für Strand-Papagallos ist, deren Ghettoblaster die Freiluft-Bars mit Eagles- und Stevie-Nicks-Klängen beschallen.

"Latino-Musik ist auf einmal so heiß wie Sex im Dampfbad", verkündet Miamis Kunst- und Musikmagazin Miami News. "Latino-Musik startet durch wie Hip-Hop im schnellen Vorlauf." Eine rasante Entwicklung, wenn man bedenkt, daß noch vor drei Jahren verquere Yankee-Logik Sheena Easton den Grammy als beste Latino-Pop-Künstlerin verlieh, und MSM gerügt wurden, sie spielten verwässerten Salsa.

Bei den diesjährigen "American Music Awards" schnappten sich Gloria Estefan und Miami Sound Machine die Auszeichnung als "Beste Band" vor Bon Jovi und Def Leppard, un Emilio wurde neben Quincy Jones für den Grammy als "Bester Produzent" nominiert. "Du mußt verstehen, das ist eine große Ehre für einen Latino", sagt Gloria, die außerdem dieses Jahr schon den Titel des "Besten Songwriters" von der Broadcast Music Inc. eingeheimst hat.

Miami Sound Machine Album CUTS BOTH WAYS orientiert sich mit fetten Bläsereinsätzen und teilweise spanischen Texten wieder mehr an den kubanischen Wurzeln.

"Wir spielen immer noch unsere Versionen der alten kubanischen Musik. Wir sind stolz darauf, Latinos zu sein. Wir haben Funk – eine Menge Sachen sind ganz schön schwarz – ebenso drauf wie Balladen. Unsere Musik spiegelt einfach die natürliche kulturelle Vielfalt Amerikas wider", sagt Gloria.

"Ich gehe seit 14 Jahren in dasselbe Restaurant", fährt Emilio fort, "gehe zum selben Friseur, zum selben Doktor. Wir streiten nie ab, Latinos zu sein. Auf der Straße sagen die Leute als erstes, daß sie unsere Musik lieben, und dann, ‚Gott segne euch, wir beten für euch‘. Der Ruhm vergeht mit der Zeit. Das einzige, was bleibt, ist, was du für deine Leute getan hast."

Und sie danken es ihren Stars: Letzes Jahr, als MSM von einer sechsmonatigen Welttournee zurückkehrten, war die Bühne der Miami Arena umringt von ausgeflippten Latinos. "Stell dir das mal vor", sagt Gloria, "diese Leute kannten uns schon, als wir noch auf Hochzeiten gespielt haben."

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