Die Tage bis zur Bestattung

 

"In jener Nacht, in den darauf folgenden Tagen streifte ich die Schichten meines Selbst ab, wie eine Schlange ihre Haut abstreift.

Unaufhörlich trat ich aus mir selbst heraus und kehrte wieder in mich selbst zurück, beobachtete mein Tun wie von weiter Ferne und tauchte erneut in meinen Körper und in meine qualvolle Angst ein.

Robin ist tot. Er ist gestorben - unwiederbringlich.

Der Kripobeamte hält uns an, daß es nun Zeit wäre, Abschied zu nehmen, daß man ihn nun mitnehmen müsse. Wieso dürfen andere Leute bestimmen, wann es Zeit ist? Wieso verfügen andere Leute, wann ich meinen Sohn loslassen kann, wann ich ihn gehen lassen kann?

Die Pfarrerin hält mit uns eine kurze Aussegnung für Robin. Nein, ohne Segen soll Robin nicht gehen müssen.

Eine kurze Ansprache mit den Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" und meine Tränen kullern mir die Wangen runter und fallen auf Robin. Er fühlt sich wieder warm an - für kurze Zeit wieder warm, wenngleich auch seine Haut sich anfühlt wie Porzellan.

Robins Taufkerze steht neben ihm und wir hören nochmal seinen Taufspruch:

" Bittet, so wird Euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird Euch aufgetan."

Matthäus 7,7

Sind diese Worte nicht furchtbar ironisch? Bitte, so wird Euch gegeben... und wie ich gebeten habe, Robin zu bekommen, nur hatte ich wohl vor lauter Aufregung vergessen zu bitten, daß ich ihn auch behalten wollte . Ich betete immer nur, laß dieses Kind lebend zur Welt kommen, nicht wie Stella.

Wir halten Robins Hand, streicheln ihm sein Köpfchen, alles natürlich unter Aufsicht der Polizeibeamten, die unter dem Türrahmen lehnen und Robin bewachen, aufpassen, daß ich ihm nicht zu nahe komme, ihn ja nicht versuche, auf den Arm zu nehmen, denn er ist ja beschlagnahmt.

Warum eigentlich Polizei, wo doch der Notarzt schon ganz klar gesagt hat, daß eine Fremdeinwirkung auszuschließen ist, daß es wohl keine Obduktion geben wird, außer, wir wollen das.

Aber trotzdem, die Polizei, der Auflauf vor dem Haus, der Leichenwagen, Notarztwagen, Krankenwagen, alles vor dem Haus, am ersten schönen Tag im Mai - und so viele Augen, die das Geschehen beobachten, die sich sagen, da muß doch etwas passiert sein. Ja, passiert ist wirklich etwas, aber was muß denn passiert sein, wenn die Polizei auch noch da ist?

Der Bestatter ( wo kommt der eigentlich her, ich habe doch keinen gerufen), hält mich an, daß wir nun Robin in den Sarg legen sollten. Wir? Nein, er meinte sich, denn ich bekam nicht mal die Gelegenheit Robin nochmal hochzuheben. Ach ja, mein Sohn war ja beschlagnahmt und da darf sich seine Mutter nicht nähern.

Da lag er nun, mein kleiner Junge, mit zerschnittener Kleidung, zugedeckt mit einer dünnen Decke. Er braucht doch sein Schmusetuch, sonst kann er doch nicht schlafen. Ich holte es und legte es Robin in den Sarg.

Der Sarg wurde geschlossen. Andreas half, die Schrauben zu verschließen. Dann verschwand der Bestatter mit meinem Kind, mit meinem Baby im Aufzug - den Sarg unter den Arm geklemmt. Was sind auch schon 11 kg? Die trägt man ja mit links und herumrutschen konnte Robin in seinem Sarg ja nicht, so eng wie alles da drin war.

Die Pfarrerin verabschiedete sich kurz, versprach aber, bald wieder zu kommen.

"Brauchen sie noch was, Frau K.?"

" Ja, natürlich brauchte ich noch etwas, meinen Bub." sagte ich.

Sonst nichts. Sonst war ich wunschlos und hätte ich ihn bekommen, wäre ich auch noch glücklich gewesen. Aber so?

Der Abend verging. Komisch, daß die Welt einfach so weiterlief, nicht aufhörte sich zu drehen.

Ich erledigte verschiedene Telefonate. Wir besprachen die Beerdigung und ich war erstaunt über mich selbst, wie genau ich alles wußte. Wie sicher ich mit dem Ablauf vertraut war, den ich mir für Robins letzten Gang vorstellte.

Die erste Nacht ohne Robin verbrachte ich mit seinem Schmusetuch im Arm, Ich wachte immer weider auf, ging nach draußen und blieb lange im Flur stehen. Dort war er gestorben.

Ich blieb stehen, wie lange? Keine Ahnung. Was ich dachte? Keine Ahnung. Ich wußte nichts und mir fiel auch nichts ein. Robin war tot und das war das einzige, was ich wußte.

Unwiederbringlich tot.

Meine ganzen Erinnerungen waren für eine Weile ausgelöscht, die Erlebnisse mit ihm einfach alles und ich hatte Angst, daß ich diese Erinnerungen nicht zurückbekäme, jetzt, wo sie doch das einzige waren, was mir blieb.

Die Nacht verging - irgendwie. Dann der nächste Morgen, ständiges Telefongeklingel, schnell eine Überwachungsanlage für Tim besorgen und dann der Anruf des Bestatter: Ja, Robin wurde von der Staatsanwaltschaft freigegeben. Die Beerdigung konnte also am Montag stattfinden. "Bringen sie noch die Kleider für ihren Sohn, wann ist uns egal, wir sind da", sagte die Bestatterin am Telefon und lachte freundlich. Na klar, daß die noch was zu lachen hatte,ihr Kind springt ja noch umher, aber taktlos fand ich dieses Verhalten schon.

Wir brachten dem Bestatter die Kleider vorbei, in denen Robin beerdigt werden sollte.

Seine schwarze Hose, das weiße Hemd, die Fliege und die Weste - alles noch von Tims Taufe im März. Er sollte keine weiße Sterbewäsche im Sarg haben, sondern seine Bettwäsche von zuhause, seinen Teletubbybettwäsche, über die er sich mit so vielen "Aaahs und Ooohs" Gefreut hatte.

Mit dem Deckenbezug wurde der Sarg ausgekleidet und das Kissen diente als Zudecke. Dazwischen sein Handy, sein Tinky Winky, sein Lieblingsbuch mit der Geschichte "Weißt Du eignetlich wie lieb ich dich hab",  sein Schmusetuch nicht zu vergessen und seine Rassel, die ihn im Brutkasten bewacht hatte.

Die Überführung sollte am Freitag sein. Und am Freitag Abend konnten wir zum ersten Mal unser Kind sehen. Ich wollte ihn doch noch unbedingt einmal auf den Arm nehmen.

Dann der nächste Schock: wir gingen die Tür zur Leichenhalle hinein und standen vor dem Tür, hinter welcher Robin liegen sollte: liebevollerweise stand auf dem Schild Zelle 1: Robin.

Als wir die Tür öffneten war uns klar, warum Zelle drauf stand: Robin war hinter einer Glastür weggeschlossen worden. Keine Gelegenheit, ihn zu streicheln, ihm über Köpfchen zu fahren, nichts. Einfach nur dastehen und ihn anstarren und feststellen, das ist nicht mein Kind, daß da liegt, nicht das Kind, daß ich am Mittwoch in den Kinderwagen gelegt hatte, auf das ich mich gefreut hatte, bis es wieder wach würde. Nein, dies war er nicht und wieder doch. Ich wußte, es ist Robin, er sieht ihm ähnlich, aber ich sah, daß dieses Kind nicht mehr von dieser Welt war, sondern schon ganz weit weg.

Zuhause waren wir eifrig damit beschäftigt, Bilder anzufertigen, die wir auf seinen Sarg machen wollten. Bilder von Dingen, die ihm wichtig waren: ein Bärchen mit einem Blumenstraß, seine Teltubbies, die Winke-winke machen, Hund, Katze, sogar ein Eis.

Am Morgen vor der Beerdigung befestigten wir die Bilder noch schnell am Sargdeckel und dann kam noch die Orchidee auf den Sarg drauf. Ein Bukett wollten wir nicht, wegen der Bilder, die den Sarg schmücken sollten.

Wir machten noch kurz Bilder von Robin im Sarg. Die Bilder, die sein Babyalbum abschließen sollten und dann gingen wir wieder heim um auf die Beerdigung zu warten.

Kurze Zeit später standen wir wieder in der "Zelle" um uns von Robin zu verabschieden. Ich konnte nur ganz leise vor mich hinweinen. Mich störten die vielen anderen Leute, von denen ich die meisten nicht mal kannte.

Besonders rasend machte mich eine Frau, die ich nicht mal kannte. Sie schluchzte laut "Das kann man nicht fassen, sowas furchtbares" und ich hätte ihr auf der Stelle den Hals umdrehen können. Das wären die letzten Momente, die ich mit meinem Sohn noch hatte und sie störte mich derart beim Abschiednehmen, vor allem weil diese Person meinen Robin nie gesehen hatte, nie mit mir über ihn geredet hatte, ihn noch nie erlebt hatte. Ich versuchte mich zusammenzureißen, hielt mich fester an meinem Mann, bis mir dieselbe Person wieder auf die Schulter tippte, um mir eine Beileidskarte in die Hand zu drücken.

Als ob das nun wichtig ist, als ob die Karte nicht auch noch Zeit gehabt hätte.

Robin war noch nicht mal beerdigt und man gab mir schon Geld, um Blumen für sein Grab zu kaufen. Ich wollte keine Blumen für ein Kindergrab kaufen, er wollte doch unbedingt eine Werkbank zum Geburtstag haben! Die wollte ich ihm schenken und nicht so ein Grünzeug!

Dann bekamen wir noch fünf Minuten mit Robin alleine, vielleicht waren es aber auch nur 2 1/2 min, jedenfalls sehr wenig Zeit um sich von seinem Kind zu verabschieden.

 Ein kurzes Übers-Köpfchen-streicheln, ein letzer Kuß und Robin wurde wieder zurück hinter seinen Glaskasten gefahren und wir gingen nach drinnen in die Aussegnungshalle.

Die ganze Trauerhalle war voller Menschen, es gab keinen Sitzplatz mehr, viele Menschen standen. Es war unglaublich wie schnell sich das herumgesprochen hatte, obwohl wir keine Annonce in der Zeitung hatten und auch nicht mehr im Ort wohnten, in dem Robin bestattet wurde.

Der Gang in die Aussegnungshalle war schwer. Was erwarteten die Leute, die gebannt auf uns starten? Einen Zusammenbruch? Dann würde man sagen, man solle sich zusammenreißen. Oder weinte man nicht genug? Trug man nicht ausreichend seinen Schmerz zur Schau?

Mein Mann und ich hatten uns bewußt gegen irgendwelche Beruhigungsmittel entschieden. Wir wollten den Schmerz deutlich spüren, ihn nicht irgendwie betäuben. Ich habe die Schmerzen gerne gelitten, bis er geboren war und ich wollte für Robin auch diesen Schmerz ertragen. Das war ich ihm schuldig. Solange ich diesen Schmerz spürte, wußte ich, daß Robin wahr war, daß es kein schöner Traum war, sondern wir wirklich und wahrhaftig 21 Monate und 18 Tage unseren Robin erleben duften ihn ein Stück seines Weges hier auf Erden begleiten durften.

Ich mußte immer wieder aufschluchzen, während die Pfarrerin die Predigt hielt. Ich war gerührt, wie schön sie von Robin sprach, wie gut sie ihn beschrieb. Es tat unheimlich gut in unserem Schmerz auf eine so wunderbare Pfarrerin zu treffen, die für uns da war.

Der Gang zum Grab war schwer. Wir gingen hinter einem weißen Kindersarg her. Wir voraus und alle anderen hinter uns. Noch nie lief ich in erster Reihe hinter einem Sarg her. Ich wollte das auch gar nie, aber wer fragt einen schon, was man will und was nicht? Wir mussten ja hinter diesem Sarg hergehen und nicht hinter irgendeinem, sondern hinter dem Sarg, in dem unser geliebter Sohn lag, unser Kind, daß wir noch vor einer Woche im Arm halten konnten, mit dem wir die erste Radtour seines Lebens unternommen hatten, mit dem wir Roller fahren übten, auf den wir uns jeden Morgen aufs Neue freuten. Und nun? Nun gingen wir tatsächlich zu seinem Grab.

Mein Vater hatte die Grabstelle ausgesucht. Wir waren vor der Trauerfeier schon an der Grabstelle, hatten ringsherum schwarze Luftballons und zwei rote Herzluftballons in die Erde gesteckt, weil wir leider so kurzfristig kein Gas zum Befüllen der Luftballons bekamen.

Alena rief irgendwann, wir bräuchten nicht traurig sein, Robin sei doch ganz tief in unseren Herzen, er sei doch jetzt im Himmel, dort ginge es ihm gut.

Unglaublich, daß ein drei Jahre altes Mädchen versuchte, seine Mama zu trösten, wo es doch selbst tief verletzt war.

Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, nahmen wir das einfach nur noch hin. Wir fühlten nichts mehr. Ich hatte zuvor große Angst vor diesem Moment, aber nun nahmen wir das hin. Hatten wir eine andere Wahl?

Am Rand des Grabes hatten wir einen Korb Vergißmeinnicht aus Omas Garten hingestellt. Darin hatte Robin noch sein Osternest gesucht.

Aber wir haben auch noch Kuscheltiere zu Robin hinabgeworfen. Er ist doch ein kleiner Junge und bestimmt hat er sich darüber gefreut. Er liebte Kuscheltiere.

Ich hielt Alena ganz fest an der Hand und es brach mir das Herz, als sie Erde auf den kleinen weißen Sarg tief unten in der Erde warf. Am liebsten wäre ich hinterhergesprungen. Schließlich wurde hier gerade ein Teil von mir begraben.

Und dann standen wir am offenen Grab unseres Kindes. Einer nach dem anderen kam vorbei, schüttelte uns die Hand, nahm uns in den Arm und wünschte uns viel Kraft. "Ja, das werden wir brauchen" habe ich an diesem Tag sicherlich tausendmal gesagt und "ich weiß, was sie sagen wollen" kam mir auch ständig über die Lippen.

Die, die nichts sagten, waren mir die liebsten. Was hätten sie auch sagen sollen? Mit welchen Worten hätten sie mir etwas von meinem Schmerz nehmen können? Es hätte nur einen Satz gegeben, der mich von meinem Leid erlöst hätte - nämlich der, daß alles nur ein schrecklicher Traum war, daß mich jemand mal kräftig an den Schultern rüttelt und ruft, "Mone, wach auf, das hast Du alles nur geträumt und nichts davon ist war." Aber das wollte und konnte mir keiner sagen.

Wir blieben noch eine Weile auf dem Friedhof, liefen immer mal wieder an Robins Grab, blickten noch ein letztes Mal hinunter, mehrere letzte Male. Wie sollten wir auf Alenas Fragen reagieren?

Mama, warum liegt Robin jetzt dort unten, warum kommt er in die Erde?

Ich antwortete nur, damit er nicht friert, mein Schatz, dort ist es viel wärmer, als hier.

Was sagt man einem drei Jahre alten Kind? Ich handelte nach meinem Gefühl und sagte ihr einfach die Wahrheit, daß ihr Bruder nie wieder auf diese Welt käme, daß er nun in einer anderen Welt lebt, in der er glücklich ist, nie wieder traurig sein muß, ihn keiner ärgert, er sich nie wieder die Fingerchen einklemmt. Daß er nun irgendwo dort oben sei, beim Lieben Gott auf dem Schoß sitzt und ihr Schutzengel sei und auf sie achtet, daß ihr niemand etwas Böses tut.

Wir gingen noch mit Alena eine Weile auf den Spielplatz. Auch wir brauchten die Ruhe, nur unsere kleine Familie - niemand sonst.

Wir haben noch viel mit Alena gesprochen, wo Robin nun sei... Versuchten, ihr die Angst zu nehmen und etwas Hoffnung zu machen, daß niemand verloren ist, den man liebt:

"Der Himmel ist hell, der Himmel ist blau

und irgendwie - das weiß ich genau-

irgendwo da oben, da mußt Du sein.

Auf einer Wolke oder so...

Aber ganz bestimmt dort oben -

irgendwo."

Ein letztes Mal liefen wir an diesem Tag zum Friedhof, meinen Mann und Alena an der Hand, Timmy im Geschwisterwagen... und Robin ganz tief im Herzen!

So fanden wir das Grab vor, nachdem Robin beerdigt war.

Robin ist tot - unwiderbringlich tot!

Nun müssen wir lernen, zu viert eine Familie zu sein, müssen lernen, ohne Robin zu leben.

Doch wenn sich an Sonnentagen unsere Schatten auf der Straße wiederspiegeln, schauen uns immer zwei lachende Sternenkinder über den Rücken und malen ihre Schatten auf die Straße!

" Die Zeit heilt Wunden - doch vergessen kann ich nicht.

Die Zeit heilt Wunden - doch ich denke oft an Dich.

Ganz egal wo Du auch bist, Du weißt so gut wie ich, irgendwann seh´n wir uns wieder, in meinen Träumen in unser´n Liedern...

 

 

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