Das Enneagramm

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Das Enneagramm ist eine alte Typenlehre, die neun verschiedene Charaktere beschreibt. Die vergröbernde Reduktion menschlichen Verhaltens auf eine begrenzte Anzahl von Charaktertypen hat es mit vielen anderen Typologien gemeinsam. Diese Modelle versuchen unter verschiedenen Voraussetzungen der Erfahrung Rechnung zu tragen, daß die Menschen zwar verschieden sind, es aber Menschen gibt, die sich auffallend ähneln.

Jede Typologie läßt sich mit einer Landkarte vergleichen, die das Ziel hat, den Überblick über den Bereich der menschlichen Seele zu erleichtern. Keine ist umfassend und keine die Sache selbst, doch können sie ausgesprochen hilfreich sein. Alle Typologien haben den Nachteil, daß sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Einzelnen notgedrungen vernachlässigen. Deshalb begegnet man ihnen verständlicherweise mit großen Vorbehalten.

Die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten hat nur Sinn, wenn sie mir die Möglichkeit der Veränderung und Befreiung von Druck und Determiniertheit aufzeigt. Diese Möglichkeit eröffnet das Enneagramm und das ist seine Stärke. Über das Beschreiben von Zuständen hinaus enthält es eine innere Dynamik, die auf Entfaltung und Befreiung zielt. Es ist mehr als ein unterhaltsames Selbsterfahrungsspiel und erfordert einiges von dem, der es so aufnehmen möchte, wie es gemeint ist: Es geht um Veränderung und Umkehr. Es konfrontiert uns mit den Festlegungen und Gesetzen unter denen wir - meist unbewußt - leben, um uns zu ihrer Überwindung und zu Schritten in den Raum der Freiheit einzuladen.

Das Enneagramm ist eine sehr alte "Landkarte". Es wurde wahrscheinlich jahrhundertelang von geistlichen Meistern und Seelenführern benutzt. Seine Wurzeln reichen, wie manche meinen, über 2000 Jahre zurück. Die alten Wüstenväter sollen dieses Wissen angewandt haben und relativ sicher ist, daß es im Mittelalter von einigen Bruderschaften der Sufis (islamische Mystiker) weiterentwickelt wurde.

Das Enneagramm beansprucht nicht, "wissenschaftlich" erhärtet zu sein, obwohl es klinische Untersuchungen gibt. Man sollte es mehr als weisheitlichen Zugang zur Innenwelt des Menschen verstehen, eine Synthese aus Spiritualität und Psychologie, der die Tradition östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung sich immer verpflichtet sah, indem sie den engen Zusammenhang seelisch-charakterlicher und religiös-spiritueller Reifung betonte. Es geht um die Ganzheit menschlicher Existenz und die Frage: Warum stoßen wir bei unserer Auseinandersetzung mit dem Leben immer wieder auf uns selbst und unsere engen Grenzen, anstatt durchzustoßen zur Fülle des Lebens, zum Sinn, zur Transzendenz? .

 

Ausgangspunkt des Enneagramms sind die Sackgassen, in die wir Menschen geraten, wenn wir versuchen, unser Leben vor inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Die Außenwelt begegnet dem Kind zunächst in Gestalt seiner Eltern und Geschwister, später durch Kameraden, Lehrer, die Werte und Normen der Gruppe, Religion und der Gesellschaft. Viele Faktoren prägen unser Inneres und verdichten sich zu "Stimmen", die sich oft in prägnanten Sätzen zusammenfassen lassen und uns begleiten. Sie wirken sich meist unbewußt auf unser Leben aus und beeinflussen Charakter und Verhalten.

Das heranwachsende Kind reagiert auf diese "Stimmen" indem es bestimmte Ideale verinnerlicht ("Ich bin gut, wenn ich ..."). Es entwickelt Vermeidungsstrategien, um Strafen oder unangenehmen Folgen seines "Fehlverhaltens" zu entgehen und baut spezifische Abwehrmechanismen auf. Schuldgefühle treten immer dann auf, wenn das gesteckte Ideal nicht erreicht oder erfüllt wird. Die eigentliche Fehlhaltung bleibt dabei meist verborgen.

Das Enneagramm deckt diese illusionären Ideale und falschen Schuldgefühle auf und befähigt uns, unserem wirklichen Dilemma ins Auge zu sehen. Es kann helfen, einen Blick für unsere mögliche Zukunft und unser wahres Selbstsein in dieser Welt als Schöpfung zu bekommen. Die alten Meister und Seelenführer wollten, daß die Menschen ihre Blockaden und Vorurteile beziehungsweise ihre Art der Wahrnehmung erkennen, das heißt, ihre Angewohnheit, das Leben aus einem verengten, erstarrten Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten. Im Mittelalter nannte man solche Verengungen Passionen oder Leidenschaften. Sie führen dazu, daß ich jenen Teil des Lebens, den ich erkannt habe oder beherrsche, für das Ganze halte. Diese Leidenschaften gilt es zu erkennen und zu lernen, die größere Wirklichkeit "objektiv" wahrzunehmen. Das Enneagramm kann helfen, unsere Selbstwahrnehmung zu läutern, schonungslos ehrlich gegen uns zu werden und besser zu unterscheiden, wann wir nur unsere eigenen inneren Stimmen und Prägungen hören, Gefangene unserer Vorurteile sind, und wann wir fähig sind, uns Neuem zu öffnen.

Hier besteht eine enge Verwandtschaft zur geistlich und psychologisch hochsensiblen Methode der Exerzitien, entwickelt von Ignatius von Loyola. Auch hier werden durch die "Unterscheidung der Geister" die Fallen aufgedeckt, die die Seele gefangen halten, jene inneren und äußeren Impulse und "Stimmen", die uns fortwährend beeinflussen. .

Die Unterscheidung vollzieht sich, kurz gesagt, in drei Schritten. Es geht darum, (1.) die verschiedenen Regungen zu verspüren, die in der Seele verursacht werden, (2.) sie zu "erkennen", das heißt, Herkunft und Zielrichtung zu verstehen und zu beurteilen, ob sie mich konstruktiv auf das Sinn-Ziel meines Lebens hinlenken oder nicht und (3.) entsprechend meiner Entscheidung auf diese Regungen zu antworten, um in diesem Fall zur "christlichen Freiheit" zu finden und in Beziehung zu treten zum "Göttlichen".

Da die Weisheit des Enneagramm dabei eine wertvolle Hilfe sein kann, haben eine Reihe von Exerzitienbegleitern begonnen, das Enneagramm in die traditionellen ignatianischen Übungen einzubeziehen. In vergangenen Jahrhunderten wurde das Enneagramm nur mündlich vom Meister auf den Schüler tradiert und wirkte mehr im Verborgenen. Seit es in der Mitte dieses Jahrhunderts zu ersten Aufzeichnungen kam, entstanden viele Bücher und Veröffentlichungen, und das Enneagramm hat weltweit großes Interesse und erstaunlich viel Resonanz gefunden.

Umso erstaunlicher, da es eher von einem negativen Ansatz ausgeht und nicht dem Selbstwertgefühl schmeichelt mit einem aufmunternden "Du bist schon okay!". Die Beschäftigung mit dieser Typologie kann mich zu ernüchternden und erschütternden Aha-Erlebnissen führen. Ich kann etwa erkennen, daß vieles, was ich tat, sicher richtig war, aber aus falschen Beweggründen heraus geschah oder daß meine positiven Gaben und Anlagen auch zum Verhängnis werden können, weil ich zu sehr darauf fixiert bin. Viele tiefe Zusammenhänge können mir aufgehen und ich erkenne plötzlich die Spiele des "falschen Selbst", in die ich verstrickt bin. .

Es geht beim Enneagramm um jene innere Arbeit, die unserem Lebensweg Echtheit verleihen kann. Das verläuft nicht ohne Schwierigkeiten. Viele meiner nicht hinterfragten Voraussetzungen und vordergründigen Lösungen werden nicht mehr funktionieren wie bisher, denn ich erkenne auch die dunklen Seiten meiner Begabungen und Fähigkeiten.

Wir Menschen sind fixiert auf das, was uns "natürlich" zufällt. All das entwickeln und verstärken wir besonders in den ersten 30 Jahren, in der Aufbauphase. Das ist richtig und notwendig. Irgendwann in der Mitte des Lebens wird dieses Spiel immer fader und freudloser. Was einst Lust war, kann zur Last werden (midlife-crisis). Ich spüre, daß mein Selbstbild, die Fremdbilder von mir und mein wirkliches Leben nicht mehr zusammenpassen. Wenn ich zulassen kann zu sein, wie ich mich tatsächlich erlebe, brauche ich die Bilder von mir nicht mehr zu verteidigen. Ich werde barmherziger mit mir und mit den anderen, denen es auf ihre Weise ganz ähnlich ergeht. Wir könnten die Angst und die Waffen ablegen und uns als Mitmenschen begegnen.

Das Enneagramm kann auch helfen alle idealisierten und moralistisch aufgeladenen Vorurteile abzubauen, wenn wir anfangen, Welt und Menschen so zu nehmen, wie sie sind, mit ihren Licht- und Schattenseiten, die zusammengehören und sich bedingen. Die Akzeptanz von Stärke und Schwäche und der ausgewogene Umgang damit verleihen mir innere Würde und Selbstwertgefühl, sie öffnet mich für neue, bereichernde und ergänzende Verhaltens- und Erlebnisweisen. Das ist die Einladung des Enneagramms.

Die Typen und ihre Dynamik

Im ersten Teil der Ausführungen über das psychologische Typenmodell Enneagramm ging es vor allem um die Vorstellung des Modells, seine geschichtlichen Wurzeln, seine Chancen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen in der Anwendung. Im folgenden Teil soll näher auf die einzelnen Typen und ihre Dynamik eingegangen werden. 

Das Enneagramm beschreibt neun Charaktermuster, das heißt, neun verschiedene Weisen unsere Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren mit all den Besonderheiten, Stärken und Einseitigkeiten. Dieses gleichförmige, musterhafte Denken, Fühlen und Verhalten ist uns Menschen praktisch zur Gewohnheit geworden und wir finden es ganz normal. Über die Entstehung solcher Charaktermuster gibt es verschiedene Vorstellungen und Theorien.

Nach Ausführungen von A. Huxley hängt es entscheidend von drei Dingen ab, was und wie ein bestimmter Mensch wird: seinen Erbfaktoren, seiner Umgebung und davon, was er in freier Wahl aus Erbe und Umwelteinflüssen macht. Ich bin also weder völlig determiniert noch völlig frei in meinem Verhalten.

Wie im ersten Teil schon erwähnt, entwickelt das Kind bestimmte Idealvorstellungen, Vermeidungsstrategien und Abwehrmechanismen, um in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu "überleben". Das ist eine kreative Eigenleistung, die Achtung und Wertschätzung verdient.

Wie können solche Muster aussehen? Wir wollen zunächst die existentiellen Grundbedürfnisse betrachten, die den Grundenergiebereichen des Enneagramms entsprechen. Das Enneagramm ordnet sich um drei zentrale, existentielle Bedürfnisse, deren angemessene Befriedigung für eine gesunde menschliche Persönlichkeitsentwicklung von Wichtigkeit sind und von denen keines besser oder wertvoller als das andere ist.

Erstens: Das Bedürfnis nach Autonomie: Ich möchte selbständig sein, ein klares Ich-Gefühl haben, mich wehren und verteidigen können, vitale Impulse spüren und spontan reagieren, meinen Raum beanspruchen und abgrenzen. Das entspricht im Enneagramm der Bauchenergie (=Bauchzentrum).

Zweitens: Das Bedürfnis nach Beziehung: Ich möchte geliebt werden und lieben, geachtet werden, Freundschaft und Fürsorge erfahren und geben, in Beziehung leben, Kontakte zu Mitmenschen pflegen. Das entspricht der Herzenergie (=Herzzentrum).

Drittens: Das Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit: Ich möchte mich sicher fühlen, die Dinge und Situationen überblicken, Zusammenhänge erkennen, Klarheit haben. Diese Denk- und Wahrnehmungsfunktionen entsprechen der Kopfenergie (=Kopfzentrum).

Ideal wäre es, wenn alle diese Energien im Gleichgewicht zueinander zur Verfügung stünden, um diese meine existentiellen Bedürfnisse befriedigen zu können und somit ganzheitlich zu leben. In der Realität des Lebens jedoch stehen die Grundbedürfnisse in bestimmter Spannung und im Gegensatz zueinander. Im Zuge der persönlichen Entwicklung hat dieses spannungsreiche "Bedürfnisgleichgewicht" eine bestimmte Akzentuierung erfahren, indem eines dieser Grundbedürfnisse stark unbefriedigt blieb und somit zum Problem wurde.

Für jeden dieser "zu-kurz-gekommenen" Energiebereiche kennt das Enneagramm drei verschiedene Problemlösungsversuche:

Erstens: Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, kann ich die spezifische Energie blockieren, das heißt, die Impulse, die von dieser Energie ausgehen, abschalten, um so den einst stark empfundenen Mangel nicht mehr zu spüren, beziehungsweise aus dem Bewußtsein zu streichen. Daraus ergibt sich das innere Dreieck des Enneagramms mit den Typen 9-3-6.

Zweitens: Ich kann die Impulse der Grundenergie so überbetonen, daß sie in meinem Leben dominieren. Auf diese Weise vermeiden die Typen 8-2-5 die dereinst schmerzliche Mangelerscheinung.

Drittens: Des weiteren gibt es die Möglichkeit, die Grundenergie, die ich in der frühen Kindheit (leider meist unbewußt) als Mangel erlebt habe, gegen mich selbst zu richten. Zum Beispiel aus selbstbehauptender Abgrenzung (Bauchenergie) wird Aggression gegen die eigene Person (Typ 1), aus der auf andere Menschen gerichteten Herzenergie wird "Selbstverliebtheit" (Typ 4), die Denkfunktionen der Kopfenergie werden zur Selbststimulierung umfunktioniert (Typ 7).

Die Konzentration auf eines dieser Problemlösungsmuster in einem Energiebereich führt zu einem Ungleichgewicht der Reaktionszentren, in dem ein Bereich die Oberhand gewinnt. Menschen des "Bauchzentrums" reagieren vorzugsweise "instinktiv", spontan und stellen sich der jeweiligen Situation ("Hier bin ich, geht mit mir um, ich reagiere"). Für sie ist die Welt eine Art Kampfplatz. Sie konzentrieren sich darauf, präsent und vor allem, sie selbst zu sein. Ihre Energie ist darauf gerichtet, was sein sollte beziehungsweise getan werden müßte und sie haben hohe Erwartungen an sich selbst und an andere. Nach außen wirken sie oft selbstsicher, auch wenn sie es nicht sind.

Die Energie der "Herzmenschen" bewegt sich auf andere Menschen zu. Ihre Frage in aktuellen Situationen ist: "Mag mich der andere, oder lehnt er mich ab?". Die Welt der subjektiven Gefühle ist ihre Domäne, ihr Thema zwischenmenschliche Beziehungen. Sie tun sich schwer, bei sich selbst zu bleiben, sehen das Leben als Aufgabe, die in Fürsorge bewältigt werden muß. Wichtige Begriffe sind Prestige, Image aber auch Verantwortungsgefühl. "Herzmenschen" werden oft beherrscht von dem, was andere über sie denken und passen sich den jeweiligen Erwartungen der anderen an.

Die Menschen vom "Kopftyp" haben das Denken als für ihr Leben wichtigste Funktion trainiert. Es ersetzt weitgehend ihre eigenen Gefühle und Spontaneität. Ihre zentrale Frage lautet: "Wie hängt das alles zusammen und in welcher Beziehung steht alles zueinander?". Es geht ihnen um den Gesamtzusammenhang und dessen Interpretation. Erst wenn sie die Situation durchschauen, können sie erkennen, wo ihr Platz darin ist. Nach außen wirken sie eher sachlich und wenig emotional.

Alle diese allgemeinen Aussagen über die Vertreter eines Energiezentrums enthalten eine breite Palette konkreter Ausformungen dieser Grundenergie. Der in den folgenden Teilen gegebene Überblick über die "neun Gesichter der Seele" kann nur sehr holzschnittartig einige Konturen hervortreten lassen. Nicht alle Merkmale treffen auf alle Vertreter eines "Typs" zu und machmal muß durch Übertreibung das "Typische" deutlicher gemacht werden. Da die Charaktermuster in bestimmter Beziehung auf dem Kreis angeordnet sind, steht jeder "Typ" in Wechselwirkung zu seinen "Nachbartypen" und hat bestimmte Anteile seines rechten oder linken "Flügels" integriert. Auch kann ich mich innerhalb meines "Typs" auf verschiedenen Reifestufen befinden, das heißt, mehr oder weniger bewußt und integriert leben.

Die neun Typen

Die beiden letzten Teile der Serie über das Enneagramm geben einen Überblick über die "Neun Gesichter der Seele". Zur Verdeutlichung der Anordnung und der Beziehungen der verschiedenen Typen dient die kreisförmige Darstellung: 

Typ 1: "Einser" sind Idealisten mit einer tiefen Sehnsucht nach Wahrheit, Gerechtigkeit und moralischer Ordnung - nach Vollkommenheit. Sie tun sich schwer, Fehler, Schwächen oder Unzulänglichkeiten zu akzeptieren und in einer "so schrecklich unvollkommenen" Welt zu leben. Das macht sie regelrecht wütend. "Einser" sind auch sehr bedacht auf Eigenständigkeit und Autonomie, haben eine ausgeprägte Selbstkontrolle und sind sehr empfindlich gegenüber Disziplinierung und Kritik von außen. Ihr "innerer Kritiker" (Zensor) hinterfragt sie ja schon ständig, ob denn auch alles, was sie denken und tun, richtig und gut ist.

"Einser" haben große Probleme mit unechten Autoritäten, Fremdbeherrschung bringt sie in Zorn. Das positive Streben nach Vollkommenheit wird auf der Schattenseite zum Perfektionismus, der deshalb ihre "Falle" ist. "Einser" wirken oft ernsthaft, zu problemorientiert und zu vernunftbetont. Sie erwecken manchmal den Eindruck von Überheblichkeit. In Beziehungen können sie sehr aufrichtig, vertrauenswürdig und zuverlässig sein.

Wenn sie in ihre Selbstverstrickungsspirale und Streß geraten, führt sie das in der Enneagrammdynamik mit der Pfeilrichtung zu den negativen Aspekten von Typ 4 - zu unbarmherziger Selbstkritik und melancholisch depressiver Stimmung ("Weltschmerz"). Integrierend und aufbauend wirkt eine Bewegung gegen die Pfeilrichtung zu den Positivaspekten von Typ 7 - heiterer Gelassenheit und dankbarem Genießen des Positiven, das schon da ist, und der Fähigkeit, in Geduld die Dinge wachsen und reifen zu lassen.

Typ 2: "Zweier" sind stets um das Wohlergehen ihrer lieben Mitmenschen bemüht, erfassen instinktiv, was ihnen fehlt oder gut tun würde und sehen um sich lauter "Hilfsbedürftige". Eigene Wünsche oder Nöte werden hinten angestellt oder gar nicht wahrgenommen. Kontakte und Beziehungen sind sehr wichtig für sie und werden gepflegt. Das Selbstwertgefühl und die Selbstbeziehung stehen im funktionalen Zusammenhang mit der Wertschätzung und Reaktion der anderen. "Zweier" wollen sich nützlich und unentbehrlich machen, um damit die Liebe und Wertschätzung der anderen zu "verdienen". Sie können dadurch oft stark vereinnahmend und aufdringlich wirken, wenn man ihnen zu wenig Beachtung schenkt.

Der Schattenaspekt ist die manipulativ-berechnende Helferstrategie. Unter Druck und Streß gehen "Zweier" in die Richtung der "rächenden" "Achter". Wird ihr Dienst nicht gelobt und gedankt, können sie aggressiv werden und ehemalige Freunde hinter dem Rücken schlecht und lächerlich machen. Als Geschenk können "Zweier" anderen das geben, was sie selbst am meisten brauchen: positive Wertschätzung. Sie stellen einen Beziehungsraum zur Verfügung, in dem das Selbstwertgefühl des anderen wachsen kann. Zu Integration und innerer Reife führt es, wenn "Zweier" sich gegen die Pfeilrichtung zu Typ 4 bewegen und erkennen, daß man Liebe und Zuwendung nicht "verdienen", sondern nur dankbar als Geschenk annehmen kann, daß man einmalig ist und stolz darauf sein darf.

Typ 3: "Dreier" können Aufgaben effektiv und kompetent erledigen. Es fällt ihnen leicht, sich persönliche Ziele zu setzen, sie auch zu erreichen, sowie andere zu begeistern und zu befähigen, ebenfalls voranzukommen. Sie haben ein Gespür für die Dynamik von Arbeitsgruppen, identifizieren sich mit ihrer "Firma" und sorgen für ein gutes Klima. Größte Schwierigkeiten haben sie mit der Wahrnehmung ihrer eigenen Gefühle. Ihnen geht es um Erfolg und Image. Sie können hart arbeiten, sind aber gleichzeitig auch sehr abhängig von Lob und Anerkennung. Um das Bild des "Erfolgsmenschen" aufrechtzuerhalten, müssen Probleme und Schwierigkeiten ausgeblendet oder umgedeutet werden, notfalls mit kleinen "Betrugsmanövern" ("wahr ist, was funktioniert"). Beziehungen werden auf Nützlichkeit hin geknüpft. "Dreier" identifizieren sich mit ihrem Erfolg, Mißerfolg stellt ihre ganze Person in Frage. Wenn der "Dreier" sein Image vor sich und vor anderen nicht mehr aufrecht erhalten kann, verliert er seinen Optimismus, wird handlungsunfähig und träge (Pfeilrichtung zu Typ 9).

Wachstum und Reifung sind möglich in der Bewegung entgegen dem Pfeil zu Typ 6, indem sie stärkere Loyalität zu ihren Mitarbeitern entwickelt und sich den Gruppennormen unterstellt. Das schützt sie vor der Gefahr, andere nur als Mittel zum Zweck des eigenen Erfolgs zu gebrauchen, was besonders für ihre familiären Beziehungen von Bedeutung wäre. Der "Dreier" gewinnt als Persönlichkeit, wenn er die Eigenschaften der "Kopfmenschen" entwickelt, indem er sich um Objektivität gegenüber dem gesellschaftlichen Kontext bemüht und erkennt, welchen Anteil er selbst zum Gemeinwohl beitragen kann. So kann er integriertes Glied einer Gemeinschaft werden und emotionale Beziehungen leben.

Typ 4: "Vierer" sind sehr sensibel und fast immer künstlerisch begabt. Sie erfassen Stimmungen und Gefühle anderer Menschen und die Atmosphäre von Orten und Ereignissen mit seismografischer Genauigkeit. "Vierer" vermeiden alles, was "gewöhnlich" ist. Dennoch beneiden sie die anderen oftmals um ihr "ganz gewöhnliches" Glück. Sie möchten durch Individualität Aufmerksamkeit erregen und die Echtheit von Gefühlen ist für sie sehr wichtig. Traurige und schmerzliche Gefühle werden voll ausgekostet bis hin zur Melancholie. Typ 4 ist von allen Enneagrammustern am stärksten auf sich selbst bezogen und kreist um die existentielle Frage: Wer und wie bin ich eigentlich wirklich? Jede Art von künstlerischer Betätigung ist eine Möglichkeit für sie, ihr "Eigenes" kreativ zu symbolisieren. Ihr Grundgefühl ist untergründiger Schmerz und Unverstandensein. In Beziehungen wirken "Vierer" oft anstrengend und mimosenhaft. Sehr positiv wirkt ihre Fähigkeit, sich emotional ganz in den anderen hineinzuspüren und ihm das Gefühl zu vermitteln, zutiefst verstanden zu werden. Das hilft dem anderen zu sich selbst zu finden und authentische Wege zu gehen.

Die Selbstverstrickungsspirale führt sie durch inneres Verlorenheitsgefühl zu hilfsbereiter Abhängigkeit (Typ 2), was sie letztendlich noch unglücklicher und voller Neid auf andere werden läßt ("tragische Romantiker"). Bewegen sich "Vierer" entgegen ihrem zwanghaften Antrieb in Richtung Typ 1, geben sie ihre defensive Einstellung gegenüber der Umwelt auf. Sie bemühen sich dann, die Umstände zum Guten zu verändern statt zu lamentieren. Sie gelangen zur Einsicht, daß sie ihre Sensibilität und Kreativität als Gaben empfangen haben, um sie zum Besten für die menschliche Gemeinschaft einzubringen. 


Typ 5: "Fünfer" brauchen ihre Privatsphäre und bevorzugen überschaubare und vertraute Situationen. Sie sind fragend und forschend daran interessiert, allen Dingen auf den Grund zu gehen und Zusammenhänge aufzudecken. Primärerfahrung vieler "Fünfer" ist eine innere Leere, die sie versuchen mit viel Wissen zu füllen. Die Sehnsucht nach Kontakt kollidiert mit der Angst vor Verletzung der Privatsphäre. Ihre Schwierigkeit, Gefühle direkt zu zeigen, läßt sie oft gefühlskalt und sehr "verkopft" erscheinen. Sie besitzen eine scharfe Beobachtungsgabe und können Situationen genau auf den Punkt bringen.

Kehrseite der scheinbaren Gefühllosigkeit ist die Stärke der "Fünfer", auch in chaotischen Situationen einen klaren Kopf und innere Ruhe zu bewahren, was helfen kann, Krisen durchzustehen. Ihre Fähigkeit, fair und objektiv zu bleiben, macht sie zu vorurteilsfreien Ratgebern und ermöglicht anderen, sich selbst objektiv und nüchtern wahrzunehmen. Die Negativdynamik führt sie über Wirklichkeitsfremdheit und Gefühllosigkeit in kompensatorische Genußsucht (Typ 7), die jedoch keinen echten Genuß ermöglicht. Sie entgehen ihrer zwanghaften Fixierung auf Abwehr, Selbstschutz und Rückzug, indem sie sich entgegen die Pfeilrichtung auf Typ 8 zu bewegen und innere Stärke spüren. Sie können dann mehr aus ihrer Leibmitte heraus leben und profitieren als Persönlichkeit, wenn sie die Bereitschaft der "Achter" annehmen, in den Schlachten des Lebens ruhig auch einige Schrammen davonzutragen und dafür erdverbundener und lebendiger zu werden.

Typ 6: Menschen, die diesem Typ angehören, haben großartige Gaben. Sie sind kooperativ, teamfähig, zuverlässig und in Beziehungen warmherzig. Für Menschen, die sie lieben, setzen sie sich mit Leib und Seele ein. Sie haben ein Gefühl für das, was möglich und unmöglich ist und wittern alle Gefahren, die in der Umwelt lauern. "Sechser" sind sehr loyal und neigen zu Konformismus. Wenn sie in ihre Selbstverwicklungsspirale geraten, treibt sie die Angst und der zermürbende Selbstzweifel zum Fundamentalismus und sie bekämpfen alles, was verunsichert und ihre Identität bedroht, durch übertriebene Aktivität (Typ 3). Die mißtrauische Aufmerksamkeit, mit der "Sechser" ihre Umwelt und Mitmenschen beobachten, empfinden Beziehungspartner oft als schwierig und der rapide emotionale Wechsel zwischen Nähe suchenden Reaktionen und abwehrend-aggresivem Verhalten läßt "Sechser" launisch und unberechenbar erscheinen. Die schmerzliche Erfahrung, sich nicht auf die Bezugspersonen bedingungslos verlassen zu können und in seiner Schutzlosigkeit den Angriffen anderer ausgeliefert zu sein, ließ die "Sechser" schon als Kind chronisch mißtrauisch werden. Sie erleben Befreiung, wenn sie ihre Angst bewußt anschauen und Vertrauen wagen. Sie brauchen einen Raum der Geborgenheit, wo sie sich nicht verteidigen müssen und sich als angenommen erfahren (Typ 9). Das führt sie zu Halt und Ruhe in sich selbst und macht sie fähig, auch anderen diese Sicherheit und Geborgenheit zu schenken.

Typ 7: Die Denkenergie der "Siebener" richtet sich auf die Planung von schönen und genußvollen Ereignissen. Glücklichsein und das Leben genießen ist ihr Ideal und sie erfüllen sich ihre Bedürfnisse, wo immer es nur geht. Sie sind fröhlich, humorvoll und strahlen Optimismus aus. Solange es positive Optionen in ihrem Leben gibt, fühlen sie sich gut und sind angenehme Gesellschafter. Menschen dieses Typs haben jedoch eine tiefliegende Ahnung und Angst, daß es innere Abgründe und Dunkelheiten im Leben gibt, die sie um jeden Preis vermeiden möchten, denn negative Gefühle und Konflikte halten sie nicht gut aus. Schwierigkeiten werden eher positiv umgedeutet und unangenehme Beziehungssituationen vermieden. Schmerzen werden nicht gefühlt, sondern durch Rationalisierung ("Kopftyp") verlagert. Glück und Freude der "Siebener" werden genauso im Kopf produziert wie die Angst der "Sechser". Optimismus (Typ 7) und Pessimismus (Typ 6) liegen direkt nebeneinander. Beides sind geistige Mechanismen, um mit den Abgründen und Gefährdungen des Lebens zu Rande zu kommen. In der Selbstverstrickungsdynamik der "Siebener", wenn das Vemeiden von Schmerz und Leid nicht mehr gelingt, können sie sehr rechthaberisch und zornig die Erfüllung ihrer eigenen Prinzipien einklagen (Pfeilrichtung zu Typ 1). Die Schuld am eigenen Elend wird nach außen verlagert. Eine Lebensaufgabe ist es, den vorschnellen Rationalisierungen auf die Schliche zu kommen und zu einem wachen Realismus zu finden. Die Gabe eines gereiften "Siebeners" ist nüchterne Freude und Weisheit (Integrationspunkt Typ 5).

Typ 8: "Achter" leben gern exzessiv und nehmen gewöhnlicherweise von sich selbst nur die starken, sicheren Anteile wahr. Sie lieben das pralle volle Leben und feiern gern. "Achter" besitzen ein Gespür für Gerechtigkeit und Wahrheit und treten selbstsicher und raumgreifend auf. Sie können ein Fels der Verläßlichkeit für andere sein und ein großes Maß an Verantwortungsgefühl und Fürsorge entwickeln, sowie große Energien freisetzen, um in Auseinandersetzungen zu siegen. "Achter" haben verinnerlicht, daß die Starken die Welt beherrschen und deshalb beschlossen, Stärke zu entwicken, Widerstand zu leisten, Regeln zu brechen und lieber zu herrschen, als beherrscht zu werden. Sie können aber auch sehr streng mit sich selber sein und müssen alles unter ihre Kontrolle bringen. Der Freund wird beschützt, der Feind bekämpft. Ihre Leidenschaft für Gerechtigkeit und Wahrheit führt dazu, daß sie sich häufig auf die Seite der Unterdrückten und Schutzlosen stellen, denn sie spüren unbewußt, daß hinter ihrer harten Fassade und Rauhigkeit ein kleines, verwundbares Kind verborgen ist. Die Gefühle von Zärtlichkeit und Verwundbarkeit sind allerdings in ihnen tief vergraben und werden im Glücksfall nur ganz nahen Beziehungspersonen gezeigt. Ihre Angriffs- und Streitlust wirkt auf andere oft aggressiv und bedrohlich, ist aber meist nur ihre spielerische Art von Kontaktaufnahme. "Achter" sind risikofreudig und nehmen Herausforderungen gerne an, auch können sie Schmerzen leichter ertragen als alle anderen Enneagrammtypen.

Wenn sie in die Selbstverstrickungsspirale geraten (Pfeilrichtung Typ 5) und nur noch aggressive Bauchenergie leben, isolieren sie sich total, ihre Innenwelt wird hohl und leer und sie können sarkastisch werden. Zu ihren Lebensaufgaben gehört es, sich mit der Machtfrage auseinander zu setzen, sie müssen lernen, sich an die Regeln zu halten, deren Befolgung sie auch von anderen erwarten, sowie barmherzig und fürsorglich mit ihrer und der Schwachheit anderer umzugehen (Integrationspunkt Typ 2). Gereifte "Achter"-Persönlichkeiten haben wie kaum ein anderer Typ die Gabe, andere Menschen an ihre wirklichen Potentiale und ihre Echtheit heranzuführen.

Typ 9: "Neuner" verstehen es, andere ohne Vorurteile zu akzeptieren und können unparteiisch die positiven Aspekte verschiedener Interessen sehen und wertschätzen. Sie eignen sich daher sehr als Friedensstifter und Schiedsrichter. Ihr Sinn für Fairness macht sie im reifen Entwicklungsstadium zu engagierten Kämpfern für Frieden und Gerechtigkeit. Im allgemeinen vermeiden sie offene Auseinandersetzungen und möchten harmonisch und friedlich mit allen Menschen leben. Sie spüren sich in die Ansichten und Gefühle anderer hinein und haben Mühe, sich davon abzugrenzen, da sie sich selbst nicht wertschätzen und für wichtig erachten können. Sie scheinen das Autonomiethema ihres Bauchzentrums dadurch zu lösen, indem sie die Autonomie ganz aufgeben, um dadurch Konflikte zu vermeiden. Sie wirken sehr passiv und träge, können aber auch Ruhe und Gemütlichkeit ausstrahlen. Die Entscheidungsschwierigkeit und Initiativlosigkeit der "Neuner" ist für ihre Beziehungspartner eine harte Geduldsprobe, die, wenn sie durchgehalten wird, auch reichliche Belohnung erfährt durch liebevolle und treue Unterstützung in allen Lebenslagen. Die Selbstverstrickungsdynamik führt "Neuner" in Richtung Typ 6 zu immer größerer Angst und Zweifel am eigenen Selbstwert, wodurch sie unfähig werden, noch irgendetwas zu tun. Zum Geschenk für die Mitmenschen werden sie mit ihrer Entwicklung gegen den Pfeil (Richtung Typ 3) zu entschlossener Tat und engagiertem Einsatz für eine bessere Welt.

Da letzendlich alle menschlichen Reaktionsweisen in mir angelegt sind und ich im Lauf meines Leben immer mehr Verhaltensmuster in mir entfalte, kann es zunächst sehr schwer sein, mein Muster in diesem Modell zu finden. Am ehesten kann mir dies gelingen, wenn ich mich in die Lebensphase zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr versetze, wo diese Energie besonders deutlich in meinem Handeln und Verhalten zutage tritt. Diese Kurzdarstellung ist jedoch wenig geeignet dazu und soll lediglich einen kleinen Einblick in die Struktur und Dynamik dieses psychologischen Modells vermitteln.

Quelle: Elisabeth Maulhardt



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