2006

SED-Diktatur

Gedächtnisaufzeichnung verfasst vom "Verfasser" K.

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Am 21. 04. 1978 wurde ich wegen eines Aufrufes zur atomaren Abrüstung, den ich Vertretern der SED des Betriebes Deutsche Post - Studiotechnik Fernsehen zur Begutachtung vorlegte, fristlos entlassen. Ich hatte vor, den Aufruf im "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" unterschreiben zu lassen und an den Weltsicherheitsrat der UNO zu schicken.

Die Studiotechnik Fernsehen, wo ich als Videomessingenieur beschäftigt war, vermittelte mir eine Stelle als Lagerverwalter im Kombinat Fernmeldebau, ebenfalls einem Betrieb der Deutschen Post, wo ich unter erheblichen Gehaltseinbußen gezwungen war weiterarbeiteten, denn Arbeitslosengeld gab es im Real-Sozialismus nicht. Anderen Betrieben, die Arbeitskräfte suchten und bei denen ich mich bewarb, wurde durch die Stasi verboten, mich einzustellen.

Mein Gehalt wurde herabgestuft, die Posttreuevergünstigungen wurden mir aberkannt, so dass mein Nettoeinkommen anfangs nur 50 %, später immer noch weniger als 70 % betrug. Ich arbeitete unter diesen Bedingungen sechs Jahre lang bis zu meiner Inhaftierung am 24. 04. 1984.

Die
Verurteilung erfolgte nach § 219 StGB-DDR wegen "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme". Der Grund war: Ich hatte meine Entlassung und meine Bemühungen, in meinem Beruf wieder arbeiten zu dürfen, prominenten kirchlichen und gesellschaftlichen Persönlichkeiten außerhalb der DDR mitgeteilt und auf deren Unterstützung gehofft.

Ich wurde zu 3 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach 1 1/2 Jahren Freiheitsentzug wurde ich am 04. 09. 1985 in die Bundesrepublik Deutschland, die mich freikaufte, abgeschoben.

Das Urteil wurde 1992 vom Bezirksgericht Potsdam
aufgehoben: "Der Anspruch auf Rehabilitierung ist nach § 3 des Rehabilitierungsgesetzes (RehaG) begründet. Der Betroffene hat das verfassungsmäßige politische Grundrecht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen, indem er Kontakte zu Personen außerhalb des Gebietes der DDR aufgenommen hat, ohne im Sinne des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes Spionage- oder Agententätigkeit auszuüben."

Die Rehabilitierungsbehörde im Ministerium des Innern des Landes Brandenburg hat mir 1996 eine Verfolgungszeit nach dem § 22 des Beruflichen Rehabilitierungsgesetzes (
BerRehaG) bescheinigt. Sie beginnt mit der fristlosen Entlassung aus meinem Beruf 1978 und endet mit der Abschiebung aus der Haft in die Bundesrepublik 1985.

Meine Frau leidet an Klaustrophobie und musste sich im Westen, nachdem ich 1985 aus der DDR-Haft freigekauft wurde und sie mit dem Kind zu mir nachreisen durfte, von einem Psychotherapeuten behandeln lassen. Ich kann mit ihr im Auto nicht durch einen Tunnel fahren, wenn sie nicht weiß, wie lang er ist und sie das Licht am Ende des Tunnels nicht sieht. Sie kann keinen Aufzug benutzen und muss Treppe steigen, auch wenn das Ziel im 8. Stock liegt. Eine Gaststätte oder einen Supermarkt betritt sie nur, wenn sie den Fluchtweg nicht aus den Augen verliert. Sie bekommt sonst Herzrasen und Todesangst. Eine auf Grund ihrer Migräne erforderliche Computer-Tomographie musste abgebrochen werden, weil sie Angst hatte zu ersticken. So fiel das überhaupt erst einem Arzt auf, der sie prompt an einen Psychotherapeuten überwies. Sie klagt über manchmal bei dem geringsten Anlass auftretende Beklemmungen und Schmerzen in der Brust, hat viel zu hohen, manchmal zu niedrigen, schwankenden Blutdruck. Der Arzt kann keine körperlichen Schäden am Herzen oder im Blut feststellen. EKG und Cholesterinwerte sind bei ihr völlig normal. Sie ernährt sich auch gesund. Die Behandlung durch den Psychotherapeuten dauerte viele Sitzungen, was die Techniker-Krankenkasse bezahlte. Die Klaustrophobie wurde durch Verhaltensmaßregeln, die man ihr mit auf den Weg gab, etwas gelindert, aber die gesamten gesundheitlichen Beschwerden nicht beseitigt, wozu auch extreme Schreckhaftigkeit und Nesselfieber gehören, die zuerst beim Kontakt mit der Stasi aufgetreten sind und in Schüben manchmal noch wiederkehren.

Als ich bei der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen fünf Monate lang in U-Haft saß, wurde meine Frau bei jedem Besuch in der Normannenstraße (Sitz von Stasi-Chef Erich Mielke) von "meinem" Stasi-Vernehmer Major Wen. vernommen, was einer kurzzeitigen Inhaftierung gleichkam. Sie hatte Angst, aus dem Gebäude nicht mehr herauszukommen, weil sie ja das Ergebnis der Vernehmung durch die totale Rechtsunsicherheit, die in der DDR herrschte, schwer einschätzen konnte, währenddessen das 12-jährige Kind zu Hause wartete. Zur Vernehmung wurde sie durch einen uniformierten Armeeangehörigen zunächst über viele Gänge geführt. Jeder Gang hatte Türen, die auf- und wieder zugeschlossen wurden. In einem fensterlosen Aufenthaltsraum musste sie zunächst eine ungewisse Zeit warten. Die Tür hatte keine Türklinke. Dann ging es zur Vernehmung. Der Vernehmungsraum wurde bewacht durch einen Armeeangehörigen mit Maschinenpistole. Als ihr schlecht wurde, weil der Vernehmer ihr einreden wollte, dass ich nichts mehr von ihr wissen wolle, wollte sie hinauslaufen. Der Vernehmer rief: "Sie können hier nicht raus!" Sie war in dem Gebäude praktisch gefangen, hilflos und allein den Psychomethoden der Staatsmacht ausgeliefert.

Der Psychotherapeut hat festgestellt, dass die Klaustrophobie meiner Frau mit den noch immer unverarbeiteten Erlebnissen bei der Stasi und überhaupt mit ihren Erlebnissen in der DDR-Diktatur vor und während meiner Haft zusammenhängt. Als ich in der DDR nach meiner fristlosen Entlassung nur noch die Hälfte meines Nettoeinkommens hatte, war meine Frau bereit mitzuverdienen. Seit der Geburt ihres ersten Kindes war sie aus Fürsorge für das Kind zu Hause geblieben, was jetzt nicht mehr unbedingt nötig war, da es für das sechsjährige Kind die Möglichkeit des Schulhortes gab. Der Arbeitsplatz wurde ihr von der Stasi diktiert. Eine andere Arbeit, wohin sie sich als biologisch-technische Assistentin bewarb und wo der Fachabteilungsleiter, der offenbar nicht der Stasi angehörte, sie gern genommen hätte, konnte sie nicht bekommen. Ihre Erfahrungsjahre wurden nicht angerechnet. Sie erhielt zunächst auch nur einen befristeten Arbeitsvertrag, was für den "Sozialstaat" DDR sehr ungewöhnlich war.

Bevor sie anfing zu arbeiten, wurde ihr Ruf geschädigt. Eine dort arbeitende Assistentin war Ehefrau eines Offiziers des Wachregiments Feliks Dzierzynski und verbreitete unter völliger Verdrehung der Tatsachen, meine Frau müsse anfangen zu arbeiten, weil ich beim Fernsehen der DDR in einer mir vorgelegten Resolution "Meine Stimme gegen die Neutronenbombe" das Wort "gegen" gestrichen und "für" eingesetzt hätte und entlassen werden musste. Das wäre in einer Versammlung im Wachregiment so ausgewertet worden, an der ihr Ehemann teilgenommen hätte. Eine von der Stasi organisierte Legende. Zersetzung von politischen Gegnern. Mit Schwefelsäure getränkte Katalysatorbruchstücke (meine Frau arbeitete in einem chemischen Labor) wurden in ihre Handtasche getan (vermutlich von dieser "Dzierzynski"-Dame), um ihre Widerstandsfähigkeit zu testen oder sie irre zu machen. Zersetzung im wahrsten Sinne des Wortes ... mit Säure. Ihr Chef, der das alles mitbekam, gestand ihr später (um zu prahlen), Mitarbeiter der "Sicherheit" zu sein. Es gelang meiner Frau schließlich, den Betrieb zu wechseln und im Gesundheitswesen bei der Erforschung von Grippeschutzimpfstoffen als Assistentin zu arbeiten. Sie absolvierte, wie ihre Kolleginnen, erfolgreich Weiterbildungslehrgänge. Bei der damit verbundenen Gehaltserhöhung wurde sie (von der Staatssicherheit) "vergessen".

Die Stasi drang
konspirativ in unsere Wohnung ein, schnüffelte in meinen Unterlagen, brachte auch den Nähkorb meiner Frau durcheinander und hängte zum Zeichen, dass sie da war, ein Bild von der Wand ab. Das sollte Angst und Unsicherheit verbreiten und zeigen, wer die Macht hatte, nicht der Bürger, sondern der Orwell-Staat, wie im 1948 geschriebenen Roman "1984". Meine politische Inhaftierung fand kurioserweise im gleichen Jahr 1984 statt. Unser Auto, das in einem abgeschlossenen Gartengrundstück stand, wurde mit obszönen Texten beschmiert. Unterwegs hatte ich einen "Platten". Ich bemerkte einen Nagel im Reifen.

In einem Studienmaterial der MfS-"Hochschule" (JHS, Juristische Hochschule Potsdam) zur "Bearbeitung von OV" von 1985 fand sich folgende Einschätzung der Wirksamkeit von Zersetzung:

"Bei richtiger Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung treffen diese in der Regel den Gegner hart, nehmen ihm für längere Zeit die Initiative und legen große Teile seiner Verbindungen und Stützpunkte lahm. Damit wird zugleich erreicht, daß er für längere Zeit über die tatsächlichen Ursachen seiner Mißerfolge und Niederlagen in Unkenntnis bleibt. Die operativen Erfahrungen zeigen eindeutig: Der Gegner reagiert wesentlich unsicherer, langsamer und oft nur zögernd als auf offizielle Maßnahmen zur Bekämpfung staatsfeindlicher Tätigkeit. Bei der Analyse der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen erhält er z.B. meist früher, umfassender und auch genauer Antwort auf diese für ihn wichtige Frage nach Ursache, Ausmaß und Konsequenzen seiner Niederlagen
."

Ziel
der Stasi war es, mit Methoden der Lüge und Zersetzung unsere Ehe auseinander zu bringen, um wenigsten meine Frau und das Kind als Arbeitskraft bzw. zukünftige Arbeitskraft nicht zu verlieren, wobei sie mich selbst schon längst abgeschrieben hat, abschreiben musste, weil ich ja den Staat nicht anerkannte, nicht anerkennen konnte (nach dem Berufsverbot) und in den Augen der Stasi ein unverbesserlicher "westlich verseuchter" Staatsfeind war. Meine Abschiebung in den Westen war in den Hirnen der Stasi schon fest einprogrammiert. Frau und Kind wollte sie aber nur ungern abschieben. Die hatten ja dem Staat nichts getan. Die Frau war fleißig, trotz Unterbezahlung. Das Kind erhielt von der Volksbildungsministerin Margot Honecker die Urkunde "Für gutes Lernen in der sozialistischen Schule", war also eine wichtige Stütze beim Aufbau Sozialismus.

Nur über Umwege fand meine Frau heraus, an welchem Tag, in welchem Ort und in welchem Gerichtsgebäude die nicht öffentliche Gerichtsverhandlung stattfand. Als sie sich am Verhandlungstag zusammen mit unserem Pfarrer Lutz Gümbel und einem Freund Klaus Jadczak im Gerichtsgebäude in Potsdam aufhielt, sah sie, wie ich mit vier Mann Bewachung und Knebelkette gefesselt, aus dem Gerichtssaal die Treppe hinunter in eine Zelle im Keller geführt wurde. Das Gericht wollte in die Mittagspause gehen.

Mein Pfarrer rief mich mit meinem Namen, damit ich auf ihn aufmerksam werde. Um einen erneuten Blickkontakt unmöglich zu machen, wurde ich nach der Pause auf dem Rückweg vom Keller von außen über einen Hintereingang und eine Treppe, die über den Dachboden führte, praktisch von oben kommend, zum Gerichtssaal geleitet. Als am nächsten Tag die Urteilsverkündung war, waren meine Frau, mein Pfarrer und der Freund wieder im Gerichtgebäude. Es herrschte im Gegensatz zum Vortag reger Betrieb auf den Gängen. Die Urteilsverkündung war öffentlich, die Urteilsbegründung dagegen nicht. Als meine Frau das Urteil 3 1/2 Jahre hörte, weinte sie. Sie wurde sofort, zusammen mit Pfarrer und Freund von der Stasi aus dem Gerichtsgebäude auf die Straße gedrängt. Der Aufenthalt und das Weinen waren ihr im Gerichtsgebäude nicht erlaubt, obwohl es ein öffentliches Gebäude war und jeder eigentlich das Recht hatte, sich dort aufzuhalten, wenn er es will.

Nach der Verurteilung wartete meine Frau vergeblich auf eine Nachricht von mir. Nachdem schon zwei Monate vergangen waren, wurde sie immer besorgter und fragte schriftlich beim zuständigen Staatsanwalt an, in welche Haftanstalt ich eingewiesen wurde. Er schrieb zurück, dass ich ihr das schon schreiben würde, wenn ich Interesse hätte, es ihr mitzuteilen. Meine Briefe wurden aber unterschlagen. Erst als unser Pfarrer Lutz Gümbel den von der SED für alle Haftanstalten als Einzigen zugelassen evangelischen Haftanstaltspfarrer Eckart Giebeler einschaltete, erfuhr meine Frau, dass ich mich in
Cottbus befand.

Hier ging der Terror weiter. Die meisten Briefe wurden weiterhin unterschlagen. Beim "Sprecher" war jegliche Verständigung untersagt, die die Zukunft der Familie (Anwalt Vogel, evtl. Freikauf) betraf. Im "Zugangsarrest" machte ich Bekanntschaft mit einem Aufseher, der als Schlägertyp bekannt war und deshalb von den Häftlingen nur "RT" = "Roter Terror" genannt wurde. Ich wurde nach der Wende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wegen Misshandlungen d. h. schweren Körperverletzungen von Gefangenen, was in der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter bereits registriert war. Weil ich angeblich nicht gut genug rasiert war, packte er mich provozierend und schleuderte mich zum Waschbecken. Eine Gegenreaktion hätte unweigerlich Schläge zur Folge gehabt. Er hatte seinen Arm zum Schlag gegen mein Gesicht schon erhoben.
Da ich, als er mich anbrüllte, nichts sagte, meine Arme bewusst unten ließ und seinen Schlag ohne mit der Wimper zu zucken (nach der Martin-Luther-King-Mahatma-Gandhi-Methode) erwartete, ließ er von mir ab. Andere Häftlinge berichteten: "Morgens testete er mit Watte, ob wir uns rasiert hatten. Wo Watte hängen blieb, prügelte er sofort los." Weil mein Bett angeblich nicht glatt genug gezogen war (reine Schikane), musste ich zur Strafe in der "Freistunde" unter seiner Aufsicht von den anderen Häftlingen getrennt im Kreis allein exerzieren.

Mit Ende des einwöchigen "Zugangsarrests" war man der Herrschaft von "RT" zunächst entkommen, wenn man nicht das Pech hatte, wegen Nichterfüllung der Arbeitsnorm wieder mit ihm Bekanntschaft machen zu müssen. Ich kam in eine 18-Mann-Zelle, Dreistockbetten. Eine miserable Toilette für alle. Das Zuchthaus Cottbus wurde nach der Wende geschlossen, weil es offensichtlich "normalen" Straftätern nicht zuzumuten war. Wir mussten innerhalb des Zuchthauses im Akkord im Dreischicht-System, also auch nachts arbeiten. Ich arbeitete an einer Stanze, ca. 20 Stanzen in einer Halle, Höllenlärm, nur mit Ohropax auszuhalten. Die Norm war übertrieben hoch. Wer arbeitsunwillig war oder die Norm nicht schaffte, kam zurück zu "RT" in den verschärften Arrest, "Mumpe" oder auch "Tigerkäfig" genannt. Ein eiserner Gitterkäfig, der sich innerhalb einer Zelle befand. Der Zugang zum Spind und zum Waschbecken war hinter einer Gittertür versperrt, die nur zeitweilig aufgeschlossen wurde. Das Fenster (zum Lüften) ließ sich über Eisenstangen nur vom Aufseher von außen bedienen. Isolierhaft unter der Herrschaft des Schlägertyps "RT", ein Druckmittel, bis man wieder arbeitsbereit war. Ich schaffte die Norm und wusste, was mir droht, wenn ich sie nicht erfüllte, hatte ich doch beim "Zugangsarrest" die Gelegenheit gehabt, den "Tigerkäfig" und "RT" kennen zu lernen.

Wenn man abgearbeitet aus der Nachtschicht kam, blühte einem fast regelmäßig das Ergebnis einer "Filzaktion". Bettzeug, Matratzen, alle persönlichen Gegenstände aus dem Spind, lagen zerstreut auf dem Boden. Jeder hatte dann das "Vergnügen", seine persönlichen Sachen, Zahnbürste, Briefe usw., wieder zu finden, sein Bett wieder herzustellen, um dann schlafen zu können.

Einmal haben wir Widerstand geleistet. Das Abendbrot war wie immer ziemlich karg. Der Standardbelag bestand aus Sülzwurst, wir nannten ihn "Sachsenspeck". Er war diesmal verdorben und stank. Die Verabredung eines Bummelstreiks machte sehr schnell die Flüsterrunde. Nachdem das schlechte Ergebnis unserer Schicht bekannt war, mussten wir uns im Hof aufstellen. Die Aufseher hatten sich mit Schäferhunden "bewaffnet". Der Leiter redet auf uns ein, dass wir gezeigt hätten, was wir können, aber wir sollten doch nun wieder "normal" arbeiten. Wir gaben ihm eine Antwort, indem wir die bundesdeutsche Nationalhymne anstimmten. Die meisten in Cottbus waren Politische.

Fast jeder kannte den Text:

Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand;
Blüh' im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!

Es war unter den Politischen üblich, sich nicht mit "Guten Tag" zu begrüßen, sondern mit "Halte durch". Jeder hoffte, in den freien Teil Deutschlands entlassen zu werden.

Auch bei der Ausreise meiner Frau, als ich schon glücklich im freien Teil Deutschlands angekommen war, gab es Schikanen. Sie wurde zu einem Goldschmied geschickt, weil sie für die Ausreise eine Abschätzung ihrer Wertsachen brauchte. Nur den gab es gar nicht mehr, weil er schon lange in den Westen ausgereist war. Ein bereits zugesagter Ausreisetermin wurde auf unbestimmte Zeit (schriftlich) abgesagt. Meine Frau und meine Tochter saßen praktisch auf gepackten Koffern. Beide erlitten einen Nervenzusammenbruch. Als meine Frau verzweifelt versuchte zu ergründen, warum die Ausreise nicht möglich war und bei der Behörde persönlich vorsprach, wurde ihr endlich mitgeteilt, dass die Ausreisepapiere des Kindes nicht stimmten. Zuerst musste das 13-jährige Kind einen eigenen Ausreiseantrag stellen mit der Begründung, dass es schon im Besitz eines Personalausweises war (der für jedes Kinder der achten Klasse obligatorisch war, ganz gleich wie alt es war). Man hatte wohl die absurde Hoffnung, dass das Kind eventuell erklärt, lieber in der DDR bleiben zu wollen, anstatt zum Vater zu kommen. Als sich die Hoffnung nicht erfüllte, war der Antrag natürlich falsch, er musste zurückgenommen werden und meine Frau musste ihn für das Kind stellen.

In der U-Haft wurde mir der Anwalt verweigert. Als ich nach einem Anwalt fragte, wurde mir von der Stasi höhnisch gesagt: "Wir leben doch hier nicht in Amerika". Ich wurde in Einzelhaft gehalten, mit meinem Schicksal und mit der Frage, wie es nun weitergeht, im Ungewissen gelassen, bis ich bereit war zu sprechen, was ich zuvor, weil ich keinen Anwalt hatte, abgelehnt hatte.

Nachdem ich nun wochenlang fast täglich vernommen wurde und bereitwillig erzählte, wo ich überall Verbindungen aufgenommen hatte, wobei der Stasi-Vernehmer auch von den in der DDR aufgenommenen Verbindungen wissen wollte, obwohl das gar nicht zum § 219 "ungesetzlichen Verbindungsaufnahme" gehörte, war ich vor den Augen des Stasi-Vernehmers im wörtlichen Sinne umgefallen. Ich sah in der Vernehmung keinen Sinn, ohne mit meiner Frau, meiner Tochter oder meinem Anwalt sprechen zu können.

Die Methode des Stasi-Vernehmers war darauf ausgerichtet, in mir ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Frau und meinem Kind zu erzeugen. Er meinte, dass das Kind einen Vater wie mich nicht brauche, es habe ja einen humanen Staat wie die DDR, der in der Lage wäre, die richtige Erziehung eines Kindes zu garantieren. Ich hatte zu meiner Tochter ein sehr inniges Verhältnis. Ich wusste, dass sie die Trennung genauso schmerzlich empfand wie ich. Die Situation bedrückte mich seelisch sehr stark.

Meine Frau teilte mir später mit, dass unsere Tochter sie verzweifelt angeschrieen habe mit den Worten: "Gib mir meinen Vater wieder!" Das bedeutete, dass sich nun meine Frau schuldig fühlte, obwohl sie gar keine Schuld hatte. Auch das Kind erlitt einen seelischen Schock fürs Leben, den es bis heute noch nicht verarbeitet hat.

Ich bin beim Umfallen mit dem Gesicht auf den Fußboden aufgeschlagen, zog mir eine Platzwunde an der Stirn zu und blutete stark (s.
psychische Folter). Die Narbe ist heute noch zu sehen. Die Wunde wurde von einem Stasi-Arzt genäht und ich hatte eine Woche lang vor der sinnlosen Vernehmerei Ruhe. Ich wurde zum Stasi-Psychiater geführt, der mich in einer nervenärztlichen Einschätzung für psychisch gesund erklärte. Der Stasi-Psychiater wollte nicht erkennen, dass ich durch die ungerechtfertigte Inhaftierung zutiefst traumatisiert, also psychisch verletzt war, und dass eine sofortige Haftentlassung vom ärztlichen und humanen Standpunkt aus gesehen geboten war.

Ich hatte nun eine genähte Wunde, ein Veilchen und ein geschwollenes Gesicht. Der Tortur des Vernehmens stand aber nichts im Wege und konnte nach einer Woche weitergehen. Da das Gesundheitszeugnis des Psychiaters vorlag, konnte der Stasi-Vernehmer beruhigt sein. Ihn traf ja keine Schuld an dem Unfall.

Nun bekam ich aber doch meinen Anwalt, Lothar de Maizière, zu Gesicht. Er erklärte mir, dass der Unfall völlig normal sei, er nannte ihn "Knastmauke". Der Stasi-Vernehmer äußerte sich meiner Frau gegenüber zynisch: "Eigentlich haben wir den Zusammenbruch ihres Mannes noch nicht so früh erwartet." Das heißt, die Stasi wusste genau, was sie tat: die Persönlichkeit des Menschen und all seine Menschenrechte sollten gebrochen werden.

Die Stasi nahm den Beschuldigten sämtliche Zivilkleidung weg, steckte sie in blaue Einheits-Trainingsanzüge und verpasste ihnen eine Nummer. Mit ihren Nummern, die die Beschuldigten gesagt bekamen und die sie sich merken mussten, wurden sie vom Wachpersonal aufgerufen, wenn es hieß, dass sie aus der Zelle zur Vernehmung mitkommen sollten. Die Nummerierung erinnert stark an andere Diktaturen, wo unschuldige Menschen zu Nummern gemacht wurden. Der Unterschied ist nur, dass die Stasi niemand in die Gaskammern schickte, sondern nur in die Zuchthäuser. Was aber auch schmerzhaft war, besonders wenn Familien dabei getrennt wurden.

Als ich später meinen Anwalt, Herrn de Maizière, noch einmal am Tage der Gerichtsverhandlung unter vier Augen (abgesehen von der Abhöreinrichtung der Stasi) sprach, fragte er mich, warum ich soviel gestanden habe, das wäre doch gar nicht nötig gewesen. Ich empfand seine Worte als Hohn. Er begriff nicht, dass ich keinen Rechtsbeistand hatte und dadurch unter psychischen Druck stand.

Im Übrigen fiel es mir nicht schwer, Taten zu gestehen, die aus der ungesetzlichen fristlosen Entlassung resultierten. Dass die Entlassung ungesetzlich war, bestätigte mir später der Betrieb, der sich bei mir entschuldigte (s.
Entschuldigungsschreiben). Die so genannte "ungesetzlichen Verbindungsaufnahme" war kein Verbrechen, da ich mit der Verbindungsaufnahme weiter nichts tat, als "mein verfassungsmäßiges politisches Grundrecht auf Meinungsfreiheit wahrzunehmen" (s. Rehabilitierungsbeschluss), indem ich von meiner ungesetzlichen fristlosen Entlassung wahrheitsgemäß berichtete.

Da die Stasi mich durch Abfangen von Post an das Russell-Tribunal und mit dem Erscheinen eines
Artikels in der westdeutschen politischen Wochenzeitschrift "Die Zeit", in der meine fristlose Entlassung beschrieben wurde, sowieso ein "Verbrechen" anhängen konnte, was sich ja durch die Festnahme zeigte, kam es auf ein "Verbrechen" mehr oder weniger nun auch nicht mehr an.

Die Gerichtsverhandlung war eine Farce. Der Staatsanwalt brüllte, dass meine "verbrecherischen" Handlungen den Frieden gefährdet hätten. Der Richter spulte jede einzelne Tat, d. h. jede "ungesetzliche Verbindungsaufnahme", die ich gestanden hatte, noch einmal ab, als gelte es dabei noch irgendwelche Zweifel zu beseitigen. Ich fragte mich, was mich das eigentlich alles noch anginge, wo doch klar war, was ich getan habe und warum ich es getan habe.

Man hätte mich auch in meiner Abwesenheit verurteilen können, denn das Urteil hatte die Stasi doch sowieso schon gesprochen. Der Anwalt versuchte, ein paar "Straftaten" als unbewiesen darzustellen, wobei er den Vorwurf, dass ich ein "Verbrechen" begangen hätte, nicht abwehrte, vermutlich auch nicht abwehren konnte, ohne Gefahr zu laufen, seinen Job als Anwalt zu verlieren.

Meinen Einspruch zog ich zurück, weil ich mir nichts davon versprach. Ob nun 2 1/2, was Herr de Maizière mit seinem
Einspruchsschreiben erreichen wollte, oder 3 1/2 Jahre, was das Gericht wollte, blieb sich für mich gleich, da beides völlig unakzeptabel war. Ich bat Herrn de Maizière, meinen Fall Rechtsanwalt Vogel vorzutragen, was er auch tat. Von ihm und der Bundesregierung erhoffte ich mir, dass meine Haftzeit durch Freikauf verkürzt wird. Die Rechnung ging auf und ich wurde nach 1 1/2 Jahren in den freien Teil Deutschlands abgeschoben.

Trotzdem war die Ungewissheit, ob und wann ich freikomme, sehr groß. Hing es doch von der politischen Lage ab. Das Gefühl der Ohnmacht und Rechtlosigkeit übermannte mich und belastete mich seelisch stark.

Nachts habe ich manchmal noch Albträume, sehe mich im Zuchthaus Cottbus zurückversetzt und habe das Gefühl, dass ich da niemals mehr herauskomme, oder dass ich in die DDR zurück entlassen werde, wo ich meine "Verbrechen" (z. B. ungesetzliche Verbindungsaufnahme §219 StGB-DDR) so lange fortsetze, bis man mich erschießt.

"Verfasser" K.
Köln, 2006

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