Willis Traum


Geschichte, geschrieben und vorgelesen von BaLo* anlässlich
der Torturmlesung in Allersberg im Nov. 2006
und zu Ehren von Wandergesellen

 

Willi Merseburgers Torturmtraum

An einem knusperkalten Novemberabend als die Krähen auf den Feldern hockten wie gefiederte Wächter und ein schleierweißer Nebel sich auf den Boden legte, hinkte ein junger Mann auf die Stadtmauer zu. Er trug die Kluft der fahrenden Gesellen, den Hut mit der breiten Krempe, die weiten Schlaghosen, das Bündel, zusammen gezurrt wie eine große Wurst auf dem Rücken und den gewundenen Wanderstab in der Hand. Unter seinem  Schlapphut blitzte ein Ohrringlein.

Es war St. Martin, und Willi Merseburger auf der Walz war müde. Er hatte sich hinter Roth den Fuß verstaucht und auf die Tippelei geflucht. Seit so vielen Monaten war er schon unterwegs und fern der Heimatstadt. Drei Jahre lang musste er fort bleiben. So war es der Brauch, und so schrieben es die Gesetze der Reisenden vor. Nicht einmal an Feiertagen oder im Winter war es erlaubt, heimzugehen und sich dort an Mutters Ofen und guter Suppe zu wärmen. Aber Willi wollte Zimmerermeister werden, und ohne Wanderjahre ging das nun mal nicht.

Von der Ortschaft her erklangen die Kirchglocken. Von den Kaminen stieg der Rauch in Wolken hoch. Es duftete nach Geräuchertem - und nach Schnee. Es war hohe Zeit, ein Lager zu finden, und den wehen Fuß zu schonen. Ja, Arbeit zu finden, das wäre auch nicht übel.

Von Ferne sah Willi Licht in vielen Fenstern. Dort saßen die  Menschen im Warmen und ließen sich sicher Kraut und Brot schmecken. Er hoffe, dort in einem dieser Häuser Unterkunft zu finden. Sein Wanderbuch war in seinem Wams und ein Loch in seinem Magen, so groß wie das Tor da vor ihm in der Stadtmauer, darüber ein Turm, trutzig, aber doch einladend. Auch in seinen Fenstern verheißungsvolles Licht.

Und als er dann direkt vor dem Tor stand, sah er links von ihm eine Eingangstür, die zur Türmerwohnung mit den erleuchteten Fenstern führen musste. An einer langen Kette hing das Glöckchen zum Läuten. Voller Hoffnung zog er daran. Vielleicht konnte er gleich hier vorsprechen und wenigstens eine Wegzehrung oder einen Labetrunk erhalten. Von einem Platz zum Schlafen mal ganz zu schweigen. 

Es dauerte eine ganze Weile, eher er aus dem Inneren des Turmes Fußschritte hörte. Viele. Lauter lustiges Getrappel von kleinen Füßen in Holzpantoffeln, wie es ihm schien, denn das Geräusch war von Gekicher und hellen Kinderstimmen begleitet.

„Uuuu, ob das der Pelzmärtel ist!“ „Iii, Martin, Du musst ihm aufmachen“. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und umgedreht, etwas karrend öffnete sich die Tür ein Stück und ein Gesichtchen kam zum Vorschein. Rotwangig und erhitzt. Das musste der Martin sein. Ein vielleicht zehnjähriger Bub mit struppeligen roten Haaren, der etwas ängstlich und doch neugierig ins Freie spähte.

„Nein, das ist nicht der Bulzer“, sagte Martin, „das ist ein Gesell’ auf der Reise.“ Und schon drängten von hinten weitere Buben und Mädchen hervor, ein bunter Haufen von Kindern in Schürzen und Kitteln. Aufgeregt und munter. „Wo kommst Du denn her?“, fragte das größte der Kinder, ein Mädchen mit langen Zöpfen und ernsterem Gesicht.

Willi war ganz verdutzt. Er hatte damit gerechnet, dass ihm der Torwächter öffnen würde, und er gleich die alten Sprüche aufsagen müsste, die zum Zureisen an fremdem Ort gehörten. Und er antwortete völlig aus dem Konzept gerissen: „Ich bin der Willi und komme aus Sachsen“. Da lachten die Kinder, weil sie seinen Dialekt noch nie gehört hatten, nahmen ihn kurzerhand an den Händen, zogen ihn mit ins Haus und schleppten ihn quietschend und johlend die Treppe hoch.

„Muutter! Schau mal… ein Wanderbursch!“. Da kam die Mutter auch schon herbei. Eine Frau mittleren Alters, nicht ganz mager, mit einer blauen Schürze um den Bauch, an dem sie sich die Hände abwischte. „Ja, Kinder, wen bringt Ihr mir denn da! Und ich dachte schon, es wäre der Vater mit dem Onkel Heiner. Na so was.“ Mit prüfendem Blick betrachtete sie den jungen Mann. Der hatte den Schlapphut abgenommen, unter dem ein Wuschel kohlrabenschwarzen Haares zum Vorschein kam, klare blaue Augen und ein breites, offenes Gesicht. Da lächelte die Frau des Tortürmers und hieß den Fremden willkommen.

Schon öfters hatten sie Wandervögel bei sich aufgenommen. Ihr Mann, der zugleich der Lehrer der Ortschaft war, war ein recht weltoffener Mann und freute sich stets, wenn er Geschichten der Fahrenden aus allen Landen zu hören bekam. Aber heute war er noch unterwegs mit seinem Bruder Heiner, weil sie beide zu Sankt Martin noch in der Kirche zu tun hatten.

Auf dem Herd aber quackerte schon das Sauerkraut mit dem Schweinskopffleisch, und das Brot stand auch schon auf dem Tisch. Es war ein Wohlgeruch im Haus von all diesen Köstlichkeiten, von Kümmel, Lebkuchengewürz, Kletzen, Zwetschgen, Quitten und Äpfeln – und herrlichem Holzfeuer im großen Ofen. Da wurde es Willi ganz warm ums Herz und er ging ein paar Schritte auf die Tortürmersfrau zu und gab ihr die Hand. „Ich bin der Willi Merseburger, bin Zimmermann auf der Walz und würd’ gern nach einer Herberg’ fragen“, meinte er, in seinem besten Hochdeutsch, um nicht weiteres Kichern herauszufordern.

Da sah die Frau, dass er einen wunden Fuß hatte, „Ja Freund, Du humpelst ja. Geh nur her an die Ofenbank und ruh Dich aus.“ Dankbar nahm Willi die Einladung an. Er war wie im Himmel. Und um ihn herum lauter alberne Engelchen… Ein gutes Dutzend von Jungen und Mädchen. Eine muntere, neugierige Schar. Sie zogen an seinen messingfarbenen Knöpfen, bewunderten seinen Wanderstab und staunten über seinen Ohrring. Sie plapperten und fragten ihn aus in einer Tour: „Von wo kommst Du denn genau her? – Wo willst Du hin?“ und was immer ihnen in den Sinn kam.

Die Tortürmerin gab ihm derweil Gäns’schmalz für seinen wunden Fuß, einen Humpen dunklen Biers und ein Stück Brot, einmal rund um den Leib geschnitten. Das eine tat er auf seinen Fuß, die anderen Wohltaten ließ er sich schmecken. Das Nass rann ihm die Kehle hinunter wie flüssiges Manna, das Brot füllte seinen Magen und das Loch darin. Im Rücken die Wärme der heißen Kacheln. Da wurde er schläfrig und nickte ein.

Es träumte ihm vom Lächeln seiner eigenen Mutter. Sanft nahm legte sie ihm mit verbindlichem Druck die Hände auf die Schultern und sah ihm mit ihren samtigen, lieben Augen geradewegs ins Herz. Er hörte ihre wohlvertraute Stimme sprechen, als wär’s ein  hingesungener Zauberspruch. ‚Sei willkommen daheim, mein Willi. Und werd’ mir ganz gesund, Junge.’ So schlummerte der junge Wandergeselle selig am Kamin im Torturm. Das rege Leben um ihn herum nahm er nicht wahr. Auch nicht, dass die Kinder erst einmal von ihrer Mutter von ihm weggeholt werden mussten. „Seid leise Kinder, und lasst ihn schlafen. Seht doch, wie müd’ der ist.“

Im Ofen knisterten und knasterten die brennenden Holzscheite. Vor den Türen war die Nacht angebrochen. Über den Äckern und Wiesen vor der Stadt funkelten vereinzelte Sterne in der klaren Novemberluft. Und im Torturm war wurde der Tisch gedeckt. Die große Schüssel mit dem Kraut und Fleisch stand dampfend in der Mitte der Tischplatte. Kartoffeln, Salz, Messer, Gabel, Löffel und das Brot brachten die Kinder herbei. Und als Willi von der Türmerin sanft geweckt wurde, hatte sich die ganze Familie, auch der Vater und Onkel Heiner, eingefunden.

Sie hießen den jungen Fremdling ebenso willkommen, wie der Rest der Familie es schon getan hatte. So freundlich war Willi lange nicht mehr aufgenommen worden. So nach und nach verlor er denn auch seine Schüchternheit und erzählte mit blitzenden Augen und im besten Sächsisch von seiner bisherigen Wanderschaft. Vom Meister in Köln, der ihm Wein eingeschenkt hatte, von der lausigen Zeit in einer kleinen Gemeinde im Spessart, wo die er in einer Kammer nächtigen musste, in der die Mäuse mit den Ratten tanzten, und die Wanzen ihn schließlich vertrieben. Und von Gretchen aus Band Windsheim, die ihm schöne Augen gemacht hatte. Und von daheim, von seinen Geschwistern und seiner Mutter, die nach dem Tod des Vaters die Landwirtschaft alleine bewältigen mussten. Und wie er schließlich, halb wehmütig, halb sich in die Ferne sehnend auf den Weg gemacht hatte. Von seinen Kollegen auf der Reise, dem Goldschmied Heinrich aus der Schweiz, Hartmund aus Koblenz, einem Schreiner, und all den anderen Trittlingen, denen er in der Zwischenzeit begegnet war, auch manchem seltsamen Zeitgenossen darunter. Nicht jeder war von der Straße ans Ziel gelangt, sondern war Vagabund und Bettler geworden. Mancher blieb sogar ganz auf der Strecke, wusste Willi zu berichten. Er aber, er konnte es nun eigentlich nicht mehr erwarten, endlich heimzukommen.

So saßen sie lange zusammen. Als Kraut und Brot abgetragen waren, stellte die Frau Teller mit Nüssen und getrockneten Birnen und Äpfeln auf den Tisch. Sie knackten und knabberten und redeten von fremden Orten und bunten Erlebnissen, bis die Kinder beinahe auf der Sitzbank einschliefen und ins Bett geschickt wurden.

Zu später Stunde zeigten sie Willi einen Platz zum Schlafen. Er rollte sein Bündel aus und legte sich nieder. Morgen würde er in die Stadt gehen und beim Meister vorsprechen, den ihn der Türmer und sein Bruder genannt hatten. Vielleicht, ja sicher, würde ein gutes Wort von ihnen ihm das Tor eher öffnen.

Allersberg lag im Schlaf. Über Torturm, Kirche, Häusern und Werkstatt glitzerte Orions Gürtel und wiegte sich ein Sichelmond. Willi streckte lag auf dem Rücken, sah zu den Holzbalken an der Decke empor und stellte sich vor, wo er ankommen wollte. Ein richtiges Zuhause müsste es sein. So eines wie das hier. Und er müsste eine Frau haben wie der Tortürmer und eine Schar von Kindern. Jede Menge Fleisch auf dem Teller, Bier im Krug und eine lohnende Arbeit. Wenn er erst einmal Meister war.

Vor ihm erstreckte sich der lange Weg. Noch über ein Jahr vor ihm. Fremde Städte, fremde Stuben, fremde Meister. Das Bündel über der Schulter, den Schlapphut auf dem Kopf und Löcher in der Börse, den Schuhen und dem Magen.

Morgen…

---------------- (c) BaLo* 28.09.2006 ------------

Allersberg: http://fraenkisches-seenland.bayern-online.de/die-region/staedte-gemeinden/allersberg/

Für "fahrende" Gesellen der "Neuzeit": BaLo am 11.10.2007

DAS Lied meiner Großeltern Luise und Martin, das sie,
als sie weit voneinander leben mussten, im Anblick des Monds und der
Sterne in ihrer großen Liebe und tiefen Sehnsucht miteinander zu verbinden half:
Ich bin nur ein armer Wandersgesell

Stand HP 24.10.2007